Katrin Seddig
Fremd und befremdlich
: Kinder lesen nicht mehr, dafür können sie viele Dinge mit einer App machen

Foto: Lou Probsthayn

Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Ich war ein Kind, das viel, sehr viel gelesen hat. Ich habe so viel gelesen, dass ich fast den Verstand verloren habe. Jedenfalls fürchteten das meine Eltern. Ich benahm mich oft merkwürdig, bewegte mich wie ferngesteuert, schränkte meine körperlichen Tätigkeiten auf ein Minimum ein. Ich lebte hauptsächlich in Büchern, insbesondere in den Ferien, in denen ich nichts anderes gemacht habe als lesen. Ich konnte nach dem Aufstehen damit anfangen und bis zum Einschlafen fortfahren, so gut wie ohne Unterbrechung, wenn die Eltern nicht störten.

Ich nahm das Buch mit auf die Toilette und saß damit am Tisch, lesend stopfte ich irgendwelches Essen in mich hinein. Ich las mich in meiner Kindheit durch den ganzen Jules Verne, James Fenimore Cooper, Jonathan Swift, Charles Dickens, Mark Twain, Friedrich Gerstäcker, Daniel Defoe, Robert Louis Stevenson, Alexandre Dumas, ich war zum ersten Mal verliebt in den feurigen D’Artagnan!

Das Lesen war damals noch nicht so gut angesehen wie heute. Damals dachte man noch, dass es besser wäre, wenn die Kinder irgendwas draußen tun, spielen oder Fahrradfahren. Heute wünschen sich die Eltern wieder, dass die Kinder lesen, heute ist Lesen irgendwie mit dem Nimbus des Intelligenten behaftet.

Aber die heutigen Kinder machen lieber was anderes, etwas auf ihrem Handy. Ihr Leben ist ohne Handy nicht vorstellbar, weil es sich auf dem Handy nicht nur abbildet, sondern dort stattfindet. Nimmt man einer Fünfzehnjährigen ihr Handy weg, nimmt man ihr ihr Leben weg. Und nun kommen wir und sagen, diese Kinder lesen nicht. Sie lesen nicht nur nicht, also Bücher, sie können es auch nicht mehr so richtig. Sie können dafür sehr viele Dinge mit einer App machen.

Lesen ist aber immer noch etwas, was als wichtig angesehen wird, in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen, bei älteren Leuten. Man kann sich fragen, ob das Lesen noch zeitgemäß und nützlich ist, für Heranwachsende, die ja fast alles mit einer App erledigen können, möglicherweise können sie bald auch so studieren, wer weiß, mit einer App für die „Kritik der reinen Vernunft“ und einer anderen für wie man einen feschen Undercut schneidet.

Und ich habe ja damals auch nicht gelesen, weil ich so ehrgeizig war, sondern des reinen Vergnügens wegen. Wenn man den Kindern das glaubhaft machen könnte, dass sie sich wie verrückt vergnügen werden, wenn sie lesen –aber das kann man nicht. Sie vergnügen sich nicht. Und zu viele können tatsächlich nicht richtig lesen.

Nimmt man einer 15-Jährigen ihr Handy weg, nimmt man ihr ihr Leben weg

Als ich in die Schule ging, konnten alle Kinder nach der Grundschule vernünftig lesen. Das kam daher, dass alle Kinder ständig vorlesen mussten, die schlecht lesen konnten, die mussten jeden Tag vorlesen, so lange lesen, laut vor der Klasse, bis sie es endlich konnten. Das war das Konzept damals in meiner Schule, dass man Sachen so lange machen musste, bis man sie konnte. Es war ein recht simples Konzept, zugegeben. Jetzt sollen die Kinder Freude empfinden und Neugierde entwickeln, damit sie von allein die ganzen Sachen lernen wollen, und manche entwickeln so was ja auch, solch freudigen Ehrgeiz, aber die anderen lernen es halt dann nicht, und da sind wir dann, bei diesen jungen Analphabeten.

Die Hamburger Autorin Kirsten Boie hat vor einiger Zeit eine Petition an das Bundesministerium für Bildung und Forschung gerichtet: „Die Hamburger Erklärung – Jedes Kind muss lesen lernen“. Da steht sehr viel Wichtiges zu dem Thema drin und ich habe unterschrieben. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob nicht Apps bald alle Dinge übernehmen. Meine Bank will dringend, dass ich endlich eine nutze, mein Telefonanbieter legt mir das ans Herz, nur muss ich diese ganzen erpresserischen Angebote erst mal lesen können, auch wenn ich sie nicht nutzen werde, weil ich kein Smartphone habe, und bald aus diesem Grund keinerlei Geschäfte mehr tätigen und außerhalb der Gesellschaft stehen werde, obwohl ich wirklich gut lesen kann.