Unsere Kinder haben das Recht, auf eine Regelschule zu gehen!

In Spanien ist die Inklusionsquote deutlich höher als in Deutschland. Doch das heißt nicht, dass Kinder mit sonderpädagogischen Bedarf dort auch in den normalen Klassen hocken dürfen. An der Madrider Carlos-Cano-Schule ist man beim Thema Inklusion weiter

Schicken ihre Kinder auf die inklusive Carlos-Cano-Schule: Ana María Cerezo, Carmen Moreno, Laura Molina und Silvia ­Bascuñana Foto: Reiner Wandler

Aus Madrid Reiner Wandler

Wenn die vier Frauen zusammensitzen, ist viel von Inklusion die Rede. Ana María Cerezo, Carmen Moreno, Laura Molina und Silvia Bascuñana sind Mütter von vier Kindern an der Carlos-Cano-Vor- und Grundschule in Fuenlabrada im Süden von Madrid. Ihre Zöglinge haben alle sonderpädagogischen Förderbedarf. Cerezos fünfjährige Catalina leidet ebenso wie Bascuñanas gleichaltriger Victor unter Autismus. Molinas siebenjährige Nicolás hat das Down-Syndrom und Morenos fünfjährige Lucía einen seltenen Defekt am Chromosom 2, der neben schweren körperlichen Beeinträchtigungen den Reifeprozess verlangsamt. „39 der 547 Schüler hier haben ein Attest, das ihnen sonderpädagogischen Förderbedarf diagnostiziert“, erklärt Moreno. Die vier Mütter sind sich einig: „Wir wollen keine Sonderschule. Wir haben ein Recht darauf, dass unsere Kinder eine inklusive Regelschule besuchen.“

Die Carlos-Cano ist genau dafür bekannt. Die Schule versteht es, wie kaum eine andere in der Region Madrid, Kinder mit besonderem Förderbedarf zu integrieren. Es sind Kleinigkeiten, die dem Besucher sofort ins Auge stechen. So haben alle Stühle Tennisbälle an den Stollen. „Das verhindert unnötigen Lärm“, erklärt Bascuñana. Vor allem Kinder mit Autismus reagieren sehr empfindlich auf Geräusche. Außerdem hängen überall kleine Schilder mit Symbolen, die den Tagesablauf piktografisch beschreiben sollen. „Das haben wir in der Elterngruppe für Inklusion ausgearbeitet“, fügt Bascuñana hinzu. Alle vier Frauen gehören dieser Arbeitsgruppe an, eine von vielen: Theater, Hühnerstall, Bibliothek, Schulgarten … „Wenn du willst, kannst du den ganzen Tag hier verbringen. Wir sind eine große Gemeinschaft“, sagt Molina.

Wer die Statistik aus dem Bildungsministerium sieht, kommt zum Schluss, dass Schulen wie die Carlos-Cano der Normalfall in Spanien sind. Im Landesschnitt gehen 83 Prozent der 37.136 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf eine Regelschule (zum Vergleich: In Deutschland waren es im Bundesdurchschnitt zuletzt 47,5 Prozent). Der Rest besucht Sonderschulen. Damit steht Spanien in Sachen Inklusion eigentlich gut da. Aber eben nur eigentlich. Was die Statistik verbirgt: „Viele der Kinder mit Förderbedarf sind zwar in einer Regelschule, dort aber in Sonderklassen untergebracht“, beschwert sich Gerardo Echeita, Professor für Evolutionspsychologie an der Universidad Autónoma de Madrid. „Außer auf dem Pausenhof und im Kunstunterricht haben sie mit den restlichen Schülern kaum Kontakt.“ So gehe die Aussonderung innerhalb der Regelschule von statten.

„Angesichts dieser Situation bevorzugen viele Eltern von Kindern mit geistigen Behinderungen die Sonderschulen“, erklärt Echeita, der als der spanische Spezialist für inklusive Bildung schlechthin gilt. Während etwa blinde oder taube Kinder fast zu 100 Prozent auf die Regelschule gingen, seien es bei geistiger Behinderung nur 60 Prozent. „Das ist kein rein technisches Problem, das ist Diskriminierung“, urteilt Echeita. Kinder, die auf die Sonderschule gingen, würden für den weiteren Lebensweg gekennzeichnet. „Was kommt nach der Schule? Sonderarbeitsplatz, Sonderwohnung?“, fragt Echeita und verweist darauf, dass Spanien 2008 das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ ratifiziert und sich damit zur Inklusion verpflichtet hat. Das Thema Schule ist für viele Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf jedoch eine regelrechte Odyssee.

Manchmal endet sie im Gerichtssaal, wie bei Cristina Défez aus Silla, einem kleinen Ort bei Valencia. Der Fall ihres sechsjährigen Cristian landete vor wenigen Monaten in den Schlagzeilen der spanischen Presse, als sie gegen das Attest, das ihren autistischen Sohn an die Sonderschule verwies, klagte. Und Défez gewann. „Ich wollte ganz einfach, dass er auf die gleiche Schule geht, wie seine zwei Jahre ältere Schwester“, sagt sie. Die Sonderschule wäre in ihrem Fall 30 Kilometer entfernt gewesen.

Manchmal geht die Odyssee für die Eltern behinderter Kinder erst später los. Paz Rodríguez etwa gelang es problemlos, ihre neunjährige Tochter Violeta mit Down-Syndrom an einer Regelschule einzuschreiben. Doch dann begann der Leidensweg der Kleinen. Sie ging zuerst auf eine als besonders fortschrittlich bekannte Stiftungsschule, dann auf eine öffentliche Schule und schließlich auf eine private. „Doch nirgends wussten sie mit Violeta richtig umzugehen. Und eine Sonderschule kommt für uns nicht in Frage“, sagt Rodríguez. Lehrer, die nicht einmal mit der Kleinen redeten, Lehrer, die nicht einschritten, wenn andere Kinder sie mobbten. Violeta habe sehr gelitten, gar zu Stottern begonnen. Zwei psychologische Gutachten bestätigen dies. Während sie eine andere, bessere Schule suchen, unterrichten Rodríguez und ihr Mann die kleine Violeta zu Hause. Mit Erfolg, wie YouTube-Videos zeigen – sie sollen andere Eltern dazu ermutigen, es ihnen gleich zu tun. Die Kleine lernt Englisch, spielt Schach und Geige. „Immer in normalem Umfeld. Wir lehnen ein spezialisiertes Umfeld für Kinder wie Violeta strikt ab“, beteuert Rodríguez einmal mehr.

Anders Melisa Tuya. Ihr Sohn Jaime, ein Zwölfjähriger mit Autismus, geht auf eine Sonderschule. „In den Regelschulen fehlt es meist an Ressourcen und an Fachpersonal“, sagt die Journalistin, die in einem Blog auf der Web der Tageszeitung 20minutos unter dem Namen „Madre reciente“ – frischgebackene Mutter – seit Jahren über ihre Erfahrungen berichtet. Sie wird in Spanien immer wieder dann zitiert, wenn es um getrennte statt inklusive Bildung geht. Dabei fiel Tuya die Entscheidung für die Sonderschule nicht leicht. Sie hat alles versucht, bevor sie Jaime letztendlich auf eine staatlich subventionierte, private Sonderschule schickte. „Sicher ist die Sonderschule nicht ideal. Das Beste wäre ein gut funktionierende inklusive Bildung. Aber letztendlich verteidigst du das, was deinem Sohn gibt, was er braucht“, erklärt sie.

„Sonderschulen schaffen Sonderschüler“

Antonio Ortiz, Rektor

Die Gründe dafür liegen auch am Zustand der öffentlichen Schulen. „Die Zahl der Spezialisten für Therapien, Logopädie, Gehörtraining, etc. liegt weit unter dem, was gesetzlich vorgesehen ist“, erklärt Jesús Rogero, Soziologe an der Universidad Autónoma de Madrid und Mitbegründer der Plattform für Inklusion. Während für öffentliche Schulen die Investitionen seit 2008 ständig zurückgingen, stiegen die Subventionen für Privatschulen. Alleine in der Region Madrid fehlen in allen Schulformen zusammen insgesamt 5.000 Lehrer und Spezialisten. Die Schülerzahl pro Klassen steigt. Die Versuchung, Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Sonderschulen abzugeben ist groß. Alleine im vergangenen Jahr nahm die Zahl der Sonderschüler um 1,9 Prozent zu.

Doch auch öffentliche Sonderschulen sind überfüllt und haben deshalb einen schlechten Ruf. Sie nehmen 60 Prozent der Kinder auf, obwohl sie nur 40 Prozent der Schulen stellen. Der Rest geht auf staatlich subventionierte Privatschulen. Die sind um einiges besser. Einen wirklich guten Ruf haben aber nur die völlig privaten Einrichtungen. Doch diese kosten um die 1.500 Euro pro Monat. Die Plattform von Rogero hat sich die Abschaffung der Sonderschulen in der Region Madrid zum Ziel gesetzt. „Die Ressourcen müssen zu den Schülern und nicht die Schüler zu den Ressourcen“, lautet das Motto.

Die Plattform für Inklusion hat zusammen mit 44 Gemeinden der Region Madrid, darunter auch die Hauptstadt, einen entsprechenden Gesetzentwurf ins Regionalparlament eingebracht. Nach den Wahlen im Mai wird darüber verhandelt werden. Die spanische Zentralregierung hat ähnliche Pläne. Durch die vorgezogenen Neuwahlen Ende April liegen sie jedoch auf Eis. „Sonderschulen schaffen Sonderschüler“, ist sich Antonio Ortiz, Rektor der Carlos-Cano-Schule sicher. Das größte Problem sieht er darin, dass diese Schulform die „Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld reißt und ihnen einen Stempel aufdrückt.“ Die Arbeit der Carlos-Cano-Schule sei nicht immer leicht. Es fehle an Personal und an Geld. „Aber das kann keine Ausrede dafür sein, Kinder an die Sonderschulen abzuschieben“, sagt der Grundschullehrer. Der Lehrberuf sei ständiges Lernen im Umgang mit immer neuen Kindern. „An vielen Schulen wollen auch die Eltern die Anwesenheit behinderte Kinder nicht akzeptieren“, weiß er.

Ein Problem, dass die Carlos-Cano-Schule kaum hat, da sie für Inklusion bekannt ist und die Eltern wissen, wohin sie ihre Kinder schicken. „Kennen Sie den Fall des schwarzen Mädchens, das als erste im Süden der USA in eine rein weiße Schule ging?“, fragt Rektor Ortiz dann. Alle weißen Eltern nahmen ihre Kinder aus dem Unterricht. Ruby Bridges, so der Name des Mädchens, wurde monatelang unter Polizeischutz ganz alleine unterrichtet. „Ich hoffe, dass uns in einigen Jahren die Ressentiments vieler Eltern gegenüber Behinderten so befremdet, wie die Geschichte dieses Mädchens.“