Falsches Prisma

Wolfgang Schivelbusch irrt über Geschichte und Metaphorik des militärischen Rückzugs

Von Stefan Reinecke

Wolfgang Schivelbusch ist ein Meister der kurzen Form, des originellen, kundigen Essays. In der Geschichte der Eisenbahnreise hat er im Kleinen die Textur einer Epoche, der umfassenden Umformung des Humanen durch die Industrialisierung, sichtbar gemacht. Exzellent war auch die längere Studie „Kultur der Niederlage“, die Muster zeigte, mit denen Gesellschaften verlorene Kriege verarbeiten. „Rückzug“ ist ein knapper Essay, der von 1789 bis zum Vietnamkrieg mit scharfem Messer „ein Tabu“ lüften will – der Rückzug dementiere unsere vom Fortschritt gepolte Wahrnehmung. Als Königsargument präsentiert Schivelbusch den „Paradigmenwechsel von den gehegten Kriegen des 18. Jahrhunderts zu den Vernichtungsschlachten“.

Vor der Revolution 1789 gab es die Kabinettskriege. Politische Konflikte wurden mit Söldnerheeren ausgetragen. Der Rückzug war ein gewöhnliches Manöver, um Ressourcen zu schonen, die Auslöschung des Gegners selten. Die Kriege waren, im Idealfall, lokal und zeitlich begrenzt. Alles änderte sich mit dem Pathos von 1789: Den Typus des Handwerkers des Krieges löste die Masse enthusiastischer Bürgersoldaten ab, die nur Sieg oder Tod kannten und denen Rückzug als Verrat galt. Lazare Carnot, der 1793 die Levée en masse, die allgemeine Wehrplicht, einführte und den Krieg der Massen gegen die Invasorenheere organisierte, brachte das Programm auf den martialischen Punkt: „Kein Manövrieren! Keine Kriegskunst! Stattdessen: Eisen, Feuer, Patriotismus! Den Feind bis zum letzten Mann ausrotten!“

Die durch Goethe berühmt gewordene Kanonade von Valmy 1792 liest Schivelbusch als letzte Schlacht des alten Krieges. Man feuerte Artillerie ab, ein paar Hundert starben auf beiden Seiten, als Verlierer galt, wer zuerst das Schlachtfeld räumte. Danach verhandelten die Generäle beim gemeinsamen Essen den ungestörten Abzug der Heere. Valmy war, so die Pointe, nicht das Neue, das Goethe dort sah, sondern der melancholische Schlussakkord des Untergehenden. Das ist frisch und flüssig erzählt, allerdings nicht neu. Zudem fehlt Präzision. Die zivilisierten Kabinettskriege des 18. Jahrhundert waren ja nicht die Norm in der europäische Geschichte, sondern Ausnahmen. Die Religionskriege des 17. Jahrhunderts waren Gewaltorkane gewesen, in denen der Glaube, für die richtige, heilige Sache zu kämpfen, eine Rolle gespielt und für Enthemmungen gesorgt hatte.

Das Bild – Einhegung des Krieges im Absolutismus, Gewaltentfesslung durch die Moderne – ist nicht so monochrom wie Schivelbusch es malt. Hier offenbart sich der Selbstwiderspruch einer Fortschrittsskepsis, die Fortschritt und die Abfolge der Epochen als Geländer benutzt. Der verbotene Rückzug erscheint als der rote Faden, der die militärische Geschichte seit 1792 durchzieht, der das Debakel Napoleons in Russland und das der USA in Vietnam begreifbar macht. Für Napoleon, Johnson und Nixon, alle blinde Kinder des Fortschritts, gab es nur Triumph oder Schmach. Pragmatischer Rückzug war aus­geschlossen. Das Rückzugstabu ist eine Art verborgener Universalschlüssel für militärische Desaster.

Diese These ist zu groß. Der Text will zu viel und kann zu wenig. Die Fixierung auf den Rückzug verleitet Schivelbusch zu kuriosen Assoziationen. So wird nahegelegt, dass Churchills Kampf 1940 gegen NS-Deutschland „auf derselben Linie wie Hitlers Endkampf-Visionen“ lagen – nämlich, wie gehabt, bloß kein Rückzug. Das ist ein rhetorischer Taschenspielertrick, der Versuch hinter dem scheinbar Ähnlichen das Verschiedene zum Verschwinden zu bringen – den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, Angriffs- und Verteidigungskrieg, rassistischem Vernichtungswillen und gewöhnlicher Großmachtpolitik. Wohin hätte Churchill 1940 den Rückzug antreten können?

„Rückzug“ kann man somit vor allem eines entnehmen. Als Prisma, um die dunklen Seiten der Moderne sichtbar zu machen, taugt das Rückzugs-Tabu nicht. Es verzerrt eher die Perspektive.

Wolfgang Schivelbusch: „Rückzug. Geschichte eines Tabus“. Hanser, München 2019, 111 S., 18 Euro