Abgeschrieben, aber noch da

Engagierte choreografische Positionen aus dem afrikanischen Sahel versammelt der Themenschwerpunkt „Timbuktu is back“

Szenenbild aus Nadia Beugré, Tapis rouge, Roter Teppich Foto: Erik Houllier

Von Astrid Kaminski

Für ihre Direktheit ist Nadia Beugré bekannt. Keine Warnung, kein langsames Auspacken. Sondern: Peng! Das ist mein Körper, das ist mein Thema, hier geht es zur Sache. Sie gilt als Feministin, hat weibliche Formen, die im europäischen Profitanz nicht vorgesehen sind. Zuletzt war die Tänzer-Choreografin 2017 mit „Legacy“ in Potsdam zu sehen, einem Stück über den historischen Frauenmarsch in der Elfenbeinküste von 1949. Nun ist sie zurück mit „Tapis rouge“ (dt. Roter Teppich) als Beitrag zum Themenschwerpunkt „Timbuktu is back“ am HAU Hebbel am Ufer. Und birgt gleich in den ersten Minuten einen Berg Kinderleichen.

Über dem Publikum hängen drei sehr schwere Taue, die Bühne ist von Tunnelgrubenlicht so beleuchtet, dass zunächst nur die wandernde Lichtquelle und raumstrukturierende Konturen zu sehen sind. Dazu ein Klang, der sich zwischen industriellen Soundscapes, Strömungsgeräuschen und Stöhnen bewegt. Auf Beugrés skulpturales Gespür für Räume ist Verlass. Lichtwechsel, ein Zeltkarree aus durchsichtigen Plastikplanen dominiert nun den Raum – als Schaufenster in eine Welt, die das Epizentrum für „Tapis rouge“ ist. Darin wird gegraben und geschürft, während ein gesichtsloser Mensch stoisch Matschkuchen bäckt – auch später noch, bis zum Ende. Was harmloses Kinderspiel sein könnte, würden beim Graben im aufgeschütteten Sand nicht Stoffpuppen, die zu groß und zu hässlich sind, um als Spielzeugpuppen durchzugehen, zum Vorschein kommen. Kinderleichen also. So werden die Matschkuchen zum Spielzeug ohne Spiel, zum Brot ohne Nährwert, zur Erde ohne Gewissen.

Beugré hat sich einem der Kapitel gewidmet, die gern unter den roten Teppich von Staatsbesuchen gekehrt werden: Kinder- und Frauenarbeit in den Minen Burkina Fasos. Das Engagierte, Sozialpolitische, der offensichtliche Kampf um Menschenrechte ist das Verbindende zwischen den Positionen, die der langjährig in Berlin tätige, burkinische Kurator Alex Moussa Sawadogo zum Themenschwerpunkt „Timbuktu is back! Künstlerische Positionen aus dem afrikanischen Sahel“ versammelt hat. Geografisch gesehen fällt unter den repräsentierten Ländern jedoch nur Mali in den Sahelbereich. Burkina Faso, die Elfenbeinküste und Senegal sind Anrainer, Niger, Tschad und Sudan kommen nicht vor.

Geopolitisch ist die Wahl unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Umbrüche durch den Einzug islamistischer Terrorgruppen in die thematisierte Region nachvollziehbar. Die Behauptung „Timbuktu is back!“ klingt nach einer Provokation zur Außenwahrnehmung der westafrikanischen Länder: Sie galten bis vor der Besetzung Timbuktus 2012 als touristisch attraktiv, relativ übersichtlich und sicher. Afrika für Einsteiger. Das änderte sich radikal. Die Region wurde abgeschrieben. Tourist*innen blieben aus, sowohl die Politik der afrikanischen Länder als auch die europäische, investierte, wie Sawadogo in einem Hintergrundgespräch anmerkt, mehr und mehr in Sicherheitspolitik und kaum noch in Kunst. Vor allem der Einbruch der europäischen Förderung sei gravierend – die innerafrikanischen Fördermöglichkeiten sind ohnehin fast überall marginal.

Auf Beugrés skulpturales Gespür für Räume ist Verlass

Wie aber lassen sich die sozialpolitischen Anliegen künstlerisch darstellen? Welche Strategien gibt es, um Spre­cher*innenpositionen klarzumachen? In dieser Hinsicht fehlt dem Themenschwerpunkt der Diskurs. So eignen sich Nadia Beugré und der bekannte, burkinische Choreograph Salia Sanou die Situation anderer an, ohne diese Tatsache in den Stücken zu reflektieren. Während Beugré ihr Thema jedoch mehr und mehr zu Situationen der Unterdrückung abstrahiert, greift Salou, der in „Vom Wunsch nach Horizonten “ die Situation subsaharischer Geflüchteter thematisiert, zu einer Tanztheaterästhetik zwischen Drama, griechischem Sirtaki und abschließender Hetero-Pärchen-Mofafahrt. Sind das die Alltagsträume Geflüchteter? Oder ist das einfach Kitsch? Klarer ins Verhältnis setzt sich ­Alioune Diagne in „Siki“, einem Dialog mit der Lebensgeschichte des ersten afrikanischen Boxweltmeister. Auf eigener Erfahrung beruht dagegen die Performance „Fatou, du hast alles getan“ von Fatoumata Bagayoko, deren konfrontierende Kunstblut- und Selbstverletzungsschlacht zum Thema weibliche Beschneidung das Publikum mit Standing Ovations unterstützt.

Ästhetisch überraschend ist dabei die homogene Tanztheatersprache der Beiträge, die Fragen aufwirft. Stilistisch prägend für westafrikanischen, zeitgenössischen Tanz ist nach wie vor die Ausbildungsstätte „École des Sables“ im Senegal. Dort scheint die derzeit weltweit renommierteste, belgische Ausbildungsstätte P.A.R.T.S. immer mehr Einfluss zu gewinnen. Könnte das der Grund für die solide, aber wenig spezifische Körpersprache der Arbeiten sein? Eine Chance für mehr Diskurs, zumindest werkimmanenten, gibt es noch: Für das Stück „Kirina“ von Serge Aimé Coulibaly stammt das Libretto von „Afrotopia“-Autor Felwine Sarr, einem der derzeit gefragtesten, postkolonialen Denkern.

Heute: „Kirina“ von Serge Aimé Coulibaly, 19.00 Uhr, HAU 2