Kolumne Lügenleser: Pünktlichkeit statt Solidarität

Am Montag streiken die Berliner Verkehrsbetriebe. Doch Verständnis für die Arbeitsniederlegung haben in diesem Land offenbar nicht viele.

Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) stehen vor einer Geschäftstelle des Unternehmens im Bezirk Mitte und nehmen an einem ganztägiger Warnstreik teil

Zum Streiken in Deutschland gehören bunte Westen und Trillerpfeifen Foto: dpa

Der Mann ist wütend. Er rüttelt an der Tür der Bahnhofs. „Da fährt nüscht heute!“, klärt ihn eine vorbeilaufende Frau auf. Ich warte einfach nur auf eine Freundin und schaue mir das größtmögliche Alman-Desaster an. Die Berliner Verkehrsbetriebe streiken. Damit sie endlich einen angemessenen und fairen Lohn bekommen. Warum man eben so streikt.

Verständnis für die Arbeitsniederlegung haben offenbar nicht viele. Im Gegenteil. Deutschland ist wahrscheinlich das einzige Land der Welt, in dem man sich darüber beschwert, dass man es nicht pünktlich zur Lohnarbeit schafft, wenn die Bahn mal nicht fährt. Man erinnere sich nur an die Medien-Kampagne gegen Eisenbahner und Gewerkschaftsfunktionär Claus Weselsky, als der tatsächlich mal die Machtfrage stellte. Der Focus bezeichnete ihn damals als den „meistgehassten Deutschen“. Ich mein, gut, Hitler war Österreicher und Björn Höcke gab es damals in der Form noch nicht, aber da wird sich ja bestimmt noch jemand anderes finden als ein störrischer Gewerkschafter.

Auch wenn irgendwelche Linksradikalen es mal wieder für eine gute Idee halten, Gleisanlagen zu zerstören, ist die Aufregung groß. Pünktlichkeit ist ein heiliges Gut in Deutschland. Wer sich ihr in die Quere stellt, ist ein Volksfeind.

Brennende Barrikaden aus Solidarität

In Frankreich, wo die andere Hälfte meiner Familie lebt, ist das irgendwie anders. Wenn Milchbauern streiken, zünden Taxifahrer aus Solidarität Barrikaden an und Fischer kippen Abfälle vor das Parlament. Wenn die Franzosen streiken, dann kracht es ein paar Wochen und der Notstand wird aufgerufen. Zumindest gefühlt verhält es sich dort so. Streiken Deutsche, dann sieht man meist irgendwelche Menschen mit orangefarbenen Westen morgens um 5 Uhr mit Trillerpfeifen im Mund Kaffee ausschenken. Und das auch nicht live auf einer blockierten Hauptstraße, sondern im „Morgenmagazin“.

Und die Bevölkerung meckert. Klar, mehr Lohn will jeder haben, aber doch bitte nicht auf meine Kosten. Oder so. Das Problem dabei: Solidarität ist keine Einbahnstraße und auch keine weltfremde Demo-Parole, wenn es gerade mal wieder um Kurdistan oder den Hambacher Forst geht. Denn, wo wir schon bei Demo-Parolen sind, Solidarität muss praktisch werden. Punkt.

All das würde ich dem wütenden Mann jetzt gerne sagen, der immer noch vor dem verschlossenen Bahnsteig steht und sich aufregt, dass er es nicht auf die Minute zu seiner Arbeit schafft. Aber ich bin zu fasziniert von seiner Beharrlichkeit, wie er vor der Tür steht und nicht gewillt ist, nach Alternativen zu suchen. Schimpft in den leeren Raum hinein, statt sich in die Frühlingssonne zu setzen und seinem Chef zu schreiben, dass er etwas später kommen wird. Da fällt mir endlich das passende Lenin-Zitat ein. „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“ Old but gold.

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Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  

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