Die Tristesse der Millionäre

Zum 16. Mal zeigt die Dokumentarfilmwoche Hamburg kleine, seltsame und experimentelle Filme. Allen gemeinsam ist eine ganz eigene und oft engagierte Perspektive auf die Menschen, von denen sie erzählen

Zeigt die bürokratische Kälte des europäischen Migrations­regimes im dänischen Detention Center Sjælsmark: „Cast away souls“ von Markus Fiedler, Stanley Edwards, Nanna Katrine Hansen Foto: Fiedler/Edwards/Hansen

Von Wilfried Hippen

Es sind die kleinen, seltsamen und experimentellen Dokumentarfilme, die man jedes Jahr wieder bei der Dokumentarfilmwoche Hamburg entdecken kann. Jene, die weder in Senderredaktionen noch bei Fördergremien eine Chance bekamen und trotzdem gemacht wurden. Jene, bei denen die Filmemacher*innen mit einem ganz eigenen Blick auf die Realität schauen, und bei denen die Art, wie erzählt wird, genauso wichtig ist wie die Menschen und Geschichten es sind, von denen sie handeln.

Der Filmemacher, Theoretiker und Kurator Stephan Geene etwa war als Zehnjähriger begeisterter Fan des Schlagersängers Ricky Shayne. Die Fanalben, in denen er Bilder seines Idols einklebte, die er vor allem aus der Teeniezeitschrift Bravo ausgeschnitten hatte, präsentiert er in einem kleinen Kapitel seiner Dokuserie „Shayne“ (läuft am 6. 4. um 22 Uhr im Metropolis).

In sechs Episoden nähert er sich dem Popstar aus den späten 60er- und 70er-Jahren an, der in Kairo geboren, in Beirut aufgewachsen ist, nach seinen ersten Erfolgen in Rom nach Deutschland ging und dort mit Liedern wie „Ich sprenge alle Ketten“ und „Mamy Blue“ ein Jugendschwarm wurde.

An einem konventionellen Porträt ist Geene nicht interessiert, stattdessen spielt er mit verschiedenen Formen und Inszenierungen. So lässt er die beiden Söhne von Ricky Shayne so frisieren und kostümieren wie ihren Vater (sein Markenzeichen waren die stolz präsentierten Brusthaare) und während einer Bühnengala auftreten.

Archivaufnahmen von Fernsehauftritten und Ausschnitte aus Filmen hat Greene meist durch Zeitlupe und andere Effekte verfremdet. Shayne selbst hat seinen Auftritt als weißhaarige Diva erst ziemlich spät im Film, und er belegt dann eindrucksvoll den alten Spruch, dass diejenigen, die die 1960er-Jahre wirklich genossen haben, sich nicht daran erinnern können. Geene gelingt es, in „Shayne“ sowohl gestalterisch als auch inhaltlich ständig zu überraschen. Und zum krönenden Abschluss singt sein gealterter Titelheld dann sogar – und zwar gar nicht schlecht.

Von der Kunst seines Protagonisten war auch der Dokumentarfilmer Rainer Komers fasziniert. Der Afroamerikaner Spoon Jackson sitzt seit 1976 wegen Mordes lebenslänglich im Gefängnis. Dort hat er sich in einen gefeierten Poeten verwandelt. In seiner Autobiografie erzählt er von seiner Kindheit und Jugend in einem kleinen Kaff in der Mojavewüste.

In „Barstow, California“ (4. 4., Metropolis) zeigt Komers zu dessen Worten die Wüstenlandschaften seiner Heimat. Von vielen der in seinen Texten beschriebenen Orte sind nicht mal Ruinen übrig. Zwei von Jacksons Brüdern finden an der Stelle, an der einmal sein Elternhaus stand, nur noch ein Stück Plastik­rohr und die Stahlfedern einer Matratze. Sie erzählen von der Armut, in der sie aufwuchsen und davon, dass sie plötzliche Fluten in der Wüste nur überlebten, weil sie mit dem Auto auf Hügel flüchteten.

Melancholie und Kälte

Die zugleich sachliche und poetische Art, in der Komers hier US-amerikanische Provinz porträtiert (mit Kindern, die auf einem Truppenübungsplatz dazu ermuntert werden, mit riesigen Maschinengewehren zu schießen und der Kundschaft einer Bar in einer Geisterstadt), erinnert an die Filme von Hartmut Bitomsky.

Dass ein Filmemacher sich in einem Gespräch, das er aufnimmt, direkt aus dem Off einmischt, gilt unter Dokumentarfilmern als schlechter Stil. Doch in Caspar Pfaundlers „Die Melancholie der Millionäre“ (4. 4. Metropolis) ist dieser Schritt nur konsequent. Denn den ganzen Film über erzählt sein Protagonist zusammen mit wechselnden Besuchern in seinem Haus (das der Film nur für eine letzte Totale der Hausfassade verlässt) direkt in die Kamera.

Andererseits ist der Film mit einem puristisch-minimalistischen Formwillen aufgenommen. Es gibt keine Nahaufnahmen, kein Kunstlicht und keine Zwischenschnitte. Da sitzt dann am Anfang der Protagonist Dr. H. schon mal länger im Dunklen, sodass es eine Weile dauert, bis man sich tatsächlich ein Bild von ihm machen kann.

Der ist ein depressiver Millionär, der von einer Tante, die nicht wirklich seine Tante ist, ein Mietshaus im reichsten Viertel von Wien geerbt hat – und der nur deshalb nicht schon längst Selbstmord begangen hat, weil er sich um einen kranken Bruder kümmern muss, der nicht wirklich sein Bruder ist.

Seine Lebensgeschichte ist ein Gesellschaftsroman mit vielen hochdramatischen Wendungen. Es wird davon erzählt, wie seine jüdische Mutter im Dritten Reich dadurch gerettet wurde, dass sie einen deutschen Nazi heiratete, den sie nie kennengelernt hat, dessen Sohn aber dann der beste Freund des Dr. H. wurde. Pfaunder weiß, was für einen Schatz er mit diesem Protagonisten und seiner Lebensgeschichte gefunden hat, und so konzentriert er sich ganz auf dessen Erzählungen und Gespräche. Bis er in diese so eingetaucht ist, dass er einfach mitreden muss.

Gespräche bilden auch den Kern des 35 Minuten langen Films „Cast away souls“ (5. 4. Lichtmess), den der Hamburger Filmemacher Markus Fiedler zusammen mit Nanna Katrine Hansen und Stanley Edward gemacht hat. Edward ist ein Migrant aus Afrika, der lange Zeit in einem Detention Center in Dänemark gelebt hat. In dieser Zeit hat er Konversationen mit dem Leiter des Centers aufgenommen.

Der rechtfertigt die unmenschlichen Lebensbedingungen der Internierten immer wieder mit den Gesetzen und Regeln, die von der Politik bestimmt wurden und denen auch er sich fügen müsse, auch wenn er selbst ihren Sinn und ihre Berechtigung infrage stellen mag. Gerade weil er dies in einem freundlich sachlichen Ton erklärt, wird deutlich, mit welcher Kälte hier die Menschen wie Dinge behandelt werden.

Mi 3. 4., bis So 7. 4. im Metropolis, Lichtmess, B-Movie und den Fux-Lichtspielen. Infos und Programm: dokfilmwoche.com