Essen auf Gräbern

Im Wald von Kurapaty, nördlich von Minsk, ließ Stalin einst Zehntausende Menschen erschießen. Letzten Sommer hat dort ein Restaurant eröffnet – es heißt „Lasst uns essen!“. Seit Monaten protestieren Aktivisten dort für die Würde der Toten

Ein Aktivist im Wald von Kurapaty. Die Kreuze wurden von Bürgern aufgestellt Foto: Dmitrij Leltschuk/laif

Aus Kurapaty Julia Jürgens

Wenn Pavel Sie­viaryniec sich den Auto­fahrern in den Weg stellt, halten sie kurz an, lassen die Fensterscheibe herunter und nehmen sein Flugblatt wie einen Parkschein entgegen. Dann geben sie Gas. Da hat er ihnen gerade die Frage gestellt, mit der er immer beginnt: Ob sie wissen, was in Kurapaty passiert ist? Einige kennen die Antwort, anderen ist sie egal. In jedem Fall muss er die Einfahrt freigeben, die er und ein paar Mitstreiter seit zehn Monaten blockieren.

Manche Autofahrer kommen zufällig. Sie sehen das Schild an der Ringstraße im Norden von Minsk und folgen der Aufforderung, die zugleich der Name des Restaurants ist, das seit Juni hier steht: „Poedem, Poedim!“ – Kommt, lasst uns essen! Die meisten aber wissen Bescheid, sagt Sieviaryniec.

Gleich hinter dem Restaurant, an einem Hügel, beginnt der Wald. Wenn die Autofahrer ihn einmal ausreden lassen, zeigt Sieviaryniec auf die Kreuze, die vor der ersten Baumreihe aufragen. Er erklärt dann, dass sie sich durch den ganzen Wald ziehen und einige Namen tragen, aber nur symbolisch: Weil niemand weiß, wie viele Menschen in den 510 Massengräbern liegen und wer sie waren. 30.000 lautet die offizielle Zahl, nach Ansicht von Sieviaryniec sind es bis zu 250.000. Vom sowjetischen Geheimdienst NKWD in den Jahren von 1937 bis 1941 brutal ermordet und in Gruben verscharrt. Seit dreißig Jahren kämpfen Aktivisten dafür, dass hier eine Gedenkstätte entsteht. Der Staat dagegen ließ 2002 die Ringstraße auf sechs Spuren ausbauen – und einen Teil des Waldes einebnen. Es ist die größte Massenexekutionsstätte in Weißrussland.

Nach diesem Satz sind schon Autofahrer wieder umgekehrt, sagt Sieviaryniec. Die Mehrheit aber fährt durch das Tor und geht essen.

Neben diesem Tor protestiert eine Handvoll Menschen. Sie stehen aufrecht und mit vor dem Bauch gefalteten Händen da, wie eine feierliche Ehrengarde für die Toten. Sie schwenken die rot-weiße Fahne, das Symbol der Opposition, und rufen: „Lang lebe Weißrussland!“

Als einen Ort „spiritueller Entspannung“ bewirbt die Website das Lokal. „Restaurant auf Leichen“ nennen es seine Gegner. Einige davon protestierten schon vor der Eröffnung. Sie stehen dort bis heute jeden Tag, von Mittag bis Mitternacht, im Winter auch bei Schnee und minus 10 Grad. Sieviaryniec ist jeden Mittwoch hier. „Wir teilen uns in Schichten auf“, sagt er. Wir – das sind verschiedene Gruppen, die sich im Protest zusammengeschlossen haben: NGOs, Jugendorganisationen, Parteien von national-konservativ über liberal bis sozialdemokratisch. „Nur Kommunisten sind nicht dabei,“ sagt Sieviaryniec und lächelt.

Er ist als Oppositioneller bekannt, für seine politischen Aktivitäten hat er mehrere Jahre im Arbeitslager und im Gefängnis verbracht. Auch wegen der Proteste in Kurapaty saß er bereits in Haft: Zwischen Juni und Dezember 2018 für insgesamt 32 Tage. In dieser Zeit hat er auch 130 Bußgeldstrafen zwischen 30 und 800 Dollar erhalten – für das Stoppen von Autos und Ungehorsam gegenüber der Polizei. Den anderen Demons­tranten ergeht es genauso. Ohne Spenden könnten sie die Summen nicht aufbringen.

Die Straße sei ein Privatweg, sagt die Polizei. Sie sei öffentlich, sagen die Aktivisten, denn sie liege innerhalb einer Schutzzone. Diese verbietet im Umkreis von 100 Metern rund um die Massengräber jeden Neubau. Das Kulturministerium hat die Zone um das Restaurant nachträglich auf 50 Meter reduziert – so dass es knapp außerhalb liegt. Dagegen bereiten die Aktivisten gerade eine Klage vor. Ihre Forderung ist, dass das Restaurant abgerissen wird. „Es ist illegal“, sagt Sieviaryniec.

Leonid Zajdes, Besitzer des Restaurants, hat in weißrussischen Medien verlauten lassen, dass er es unter keinen Umständen schließen wird. Auf die Anfrage nach einem Interview meldet er sich nicht zurück. Er ist auf die Presse schlecht zu sprechen: Im Dezember verklagte er die unabhängige Wochenzeitung Nowy Czas (Neue Zeit), weil sie über strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn in der Ukraine berichtet hatte. Den Prozess verlor er.

Den Aktivisten hat Zajdes jedoch einen Vorschlag unterbreitet: Er würde ihnen ein Nebengebäude des Restaurants für ein Museum zur Verfügung stellen, plus umgerechnet etwa 18.000 Euro. Den Vorschlag hat Sieviaryniec als Verhandler der Aktivisten abgelehnt. Ein Gedenkraum für die Opfer von Massen­erschießungen – und nebenan wird aus gläsernen Patronenhülsen Wodka getrunken? So ist es bei einer Firmenfeier im Sommer vorgekommen. „Vielleicht war es nicht einmal zynisch gemeint, sondern Unwissenheit“, sagt Sieviaryniec. Aber auch Ignoranz verhöhnt die Opfer, findet er.

„Das Restaurant verfolgt die Strategie, die Massenmorde Stalins zu verharmlosen“, sagt Sieviaryniec. Die Besucher des Res­tau­rants, den Besitzer ­Zajdes und seine Geschäftspartner bezeichnet er als prorussisch und offen für das, was er den „Spirit of Stalin“ nennt. In Weißrussland wird der Diktator immer noch verehrt – etwa im Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk, das 2014 eröffnet hat.

Gegen diesen Geist kämpfen einige Aktivisten seit 1988: Damals begannen die Proteste, die sich im noch sowjetischen Weißrussland zur Unabhängigkeitsbewegung entwickelten. Der Auslöser war Kurapaty: In einem Artikel hatte der Archäologe Sjanon Pasnjak erstmals öffentlich über die Massengräber berichtet. Bei einem Gedenkmarsch im Herbst 1989 laufen 50.000 Menschen nach Kurapaty. Es ist die erste Massendemonstration.

Dreißig Jahre und eine Diktatur später ist vieles anders. Die Gegner sind heute nicht nur der Staat und Präsident Lukaschenko. Wen genau bekämpfen die Aktivisten? Restaurantbesitzer Zajdes, ja. Die Polizei, notgedrungen. Vor allem aber bekämpfen sie die Besucher: die eigene Gesellschaft.

So registrieren die Aktivisten alle, die auf den Parkplatz des Restaurants fahren, fotografisch in einer Datenbank. Bis Dezember haben sie über 1.200 Autos erfasst. Währenddessen werden auch die Aktivisten mit Handykameras gefilmt – ob von der Polizei oder dem Geheimdienst sei ihnen nicht ganz klar. Dunkel gekleidete Männer filmen auch die Interviews, die die Reporterin mit dem Aktivisten Sieviaryniec führt. „Sie arbeiten an einer Dokumentation über Kurapaty“, sagt er und lächelt. „Wir sind hoffentlich eingeladen, wenn sie gezeigt wird.“

Der Protest ist für viele Aktivisten auch persönlich: Dzianis Urbanowicz, 29, Vorsitzender der Jugendorganisation Malady Front (Junge Front), steht jedes Wochenende Wache. Als er sechzehn war, nahm ihn sein Vater das erste Mal mit nach Kurapaty. Er erzählte ihm von seinem Vater, Urbanowicz’ Großvater. „Er lebte im Lahojsk-Distrikt nahe der Grenze zu Polen. Dort wurden besonders viele Menschen Opfer des Terrors, weil Stalin sie verdächtigte, Spione zu sein.“ Joseph Hlodkin wurde wegen anti­sowjetischer Umtriebe verurteilt und ins Gefängnis nach Minsk gebracht. 1937 wurde er erschossen – wahrscheinlich in Kurapaty, sagt Urbanowisz.

Und nebenan wird aus gläsernen Patronenhülsen Wodka getrunken

Niemand weiß genau, wo seine Angehörigen exekutiert wurden. Oft erfuhren Familien nicht einmal den Grund. Der weißrussische Geheimdienst KGB behauptet heute, keine Informationen über die Opfer zu haben. Sein Archiv macht er nicht zugänglich. Doch die Listen der Ermordeten sind vermutlich längst zerstört, glaubt Ihar Kuzniatsou. Er ist Historiker – der einzige in Weißrussland, der an einer staatlichen Universität zu den Repressionen Stalins forscht.

In einem Café in Minsk hat Kuzniatsou Schwarz-Weiß-Bilder von Schädeln und Skeletten vor sich ausgebreitet. Er war 1997 bei der letzten Ausgrabung in Kurapaty dabei. „Wir wissen, wie sie gestorben sind, aber kaum etwas über ihr Leben“, sagt er. Durch Überreste wie Schuhe und Kleider lässt sich allerdings vermuten, dass die meisten der Opfer einfache Arbeiter waren und manche von weiter her kamen: aus Ostpolen, das Stalin 1939 besetzte, und aus den baltischen Ländern. „Unter ihnen waren auch Juden“, sagt Kuz­nia­tsou.

Von allen Opfern, deren Zahl er auf mindestens 100.000 schätzt, sind nur zwei Namen offiziell bekannt – Mowsha Kramer und Mordehaj Shul’kes. Zwei Juden aus der Stadt Grodno, von denen man in einem Grab die Dokumente fand. „Ohne Namen ist nur ein abstraktes Erinnern möglich. Das ist für unsere Gesellschaft ein großes Trauma“, sagt der Historiker. In ganz Weißrussland gibt es mehr als hundert Massenerschießungsstätten aus der Stalinzeit.

Im Wald von Kurapaty steht seit Kurzem ein Mahnmal. Es hat vier Stelen mit einer Glocke in der Mitte und trägt die Inschrift: „Für die Opfer der politischen Repression der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts.“ Dreißig Jahre lang wurde es angekündigt. Am 6. November hat das Ministerium für Kultur es aufstellen lassen. Heimlich fast – ohne Einweihung, Reden und Blumenkränze.

Für den Historiker Kuz­nia­tsou ist es ein Kompromiss – für den Aktivisten Sieviaryniec nur der Versuch, die Debatte um Kurapaty zum Schweigen zu bringen: „Die Täter werden nicht genannt, alles bleibt vage.“ Von der Einfahrt des Restaurants blickt er auf die Kreuze am Hügel. Er wird so lange hier stehen, sagt er, bis die Menschen nach Kurapaty kommen, um der Opfer Stalins zu gedenken. Und nicht, um Blini zu essen.

Die Recherche unserer Autorin wurde von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert.