der dreimal überfahrene onkel von RALF SOTSCHECK
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In knapp einer Stunde ist man um die Insel herumgelaufen. In dem besiedelten Teil im Osten der Insel dauert kein Fußweg länger als 20 Minuten. Das Eiland vor der irischen Westküste, das hier lieber nicht näher benannt werden soll, ist so klein, dass man eigentlich kein Auto benötigt. Das sehen die Insulaner leider anders.

In den Sechzigerjahren kamen die ersten beiden Autos auf die Insel. Die beiden wohlhabende Bauern mussten dafür eine Autofähre mieten, denn die Insel wird normalerweise nur von kleinen Booten angelaufen. Zwei Wochen ging alles gut. Dann prallten die beiden Autos auf der einzigen Kreuzung der Insel zusammen – zwei Totalschäden. Selbstverständlich waren sie nicht versichert – wozu auch? Die Besitzer hatten angenommen, dass bei solch niedrigem Verkehrsaufkommen nichts passieren konnte.

Neulich war ich wieder mal auf der Insel, um Freunde zu besuchen, weil meine Erinnerung an die letzte Überfahrt verblasst war. Kaum war ich auf dem Boot, fiel mir alles wieder ein, doch da war es zu spät: Die Nussschale schlingerte wie auf einer Achterbahn übers Meer, die Wellen schlugen über dem Boot zusammen. Ich war völlig durchnässt, und mir war hundeelend, als ich endlich auf der Insel ankam. Ich kenne das Eiland in keinem anderen Zustand.

Inzwischen gibt es dort zwei Dutzend Autos und sogar einen Taxidienst. Der Fahrer ist höchstens zwölf. Ob der grüngesichtige Herr irgendwo hingefahren werden möchte, fragte mich der Knirps. Ich lehnte dankend ab, da meine Freunde keine 100 Meter von der Pier entfernt wohnen. Nach einem doppelten Brandy, der angeblich magenberuhigend ist, erzählte Fiona die Geschichte von ihrem Nachbarn Jimmy, einem jungen Mann, der seine Freizeit gern im Pub verbringt.

Als Jimmy vor zwei Wochen die Kneipe verließ, war es noch gar nicht so spät, aber er war zu faul, nach Hause zu laufen. Vor dem Wirtshaus stand ein Auto, der Schlüssel steckte in der Zündung, denn wer sollte die Karre schon klauen? Weit käme man damit ohnehin nicht. Jimmy beschloss, den Wagen zu leihen. Auf dem Nachhauseweg fuhr er über ein Hindernis, das auf der Straße lag. Jimmy hielt vorsichtshalber an und schaute mit der Taschenlampe nach: Das Hindernis war sein Onkel. Er war tot. Nachdem sich Jimmy von dem Schock etwas erholt hatte, fuhr er den Wagen zurück zur Kneipe und ging zu Fuß nach Hause.

Die Polizei stellte am nächsten Tag fest, dass der Onkel dreimal von dem selben Auto überfahren worden war. Aber es saß jedes Mal ein anderer Fahrer am Steuer. Nachdem Jimmy den Wagen zum Pub zurückgebracht hatte, war ein anderer Gast auf dieselbe Idee gekommen, hatte sich das Auto ausgeliehen und geschwind zurückgebracht, nachdem er den Onkel überfahren hatte. Genauso machte es danach ein dritter Kneipenbesucher. Der Besitzer fand seinen Wagen zur Sperrstunde jedenfalls an derselben Stelle vor der Kneipe, an der er ihn abgestellt hatte.

Der Leichenbeschauer stellte fest, dass der Onkel nicht durch das Auto ums Leben gekommen war, sondern einen Herzinfarkt erlitten hatte. Als Jimmy ihn überrollte, war er längst tot. Das galt für die beiden folgenden Überrollmanöver erst recht.