Unbehaust in der eigenen Haut

Ein Abschied von der Farbigkeit: In „Rauschen“ findet Sasha Waltz berührende Bilder und lässt das Publikum in der Volksbühne doch auch ermattet zurück

Hin zu einer Reduktion, zu Geometrie, zum leeren Raum: „Rauschen“ von Sasha Waltz an der Volksbühne Foto: Julian Röder

Von Katrin Bettina Müller

Bevor „Rauschen“ beginnt, eine Uraufführung von Sasha Waltz am Donnerstagabend an der Volksbühne, ist einigen langjährigen Begleitern der Choreografin doch etwas klamm zumute. Jetzt endlich werden der 56-Jährigen die großen Bühnen gegeben, auf denen man sie vor 15 oder 20 Jahren gerne schon gesehen hätte. Bald wird sie das Staatsballett mitleiten. Aber die Freude, die der Bewegungswitz ihres Tanztheaters damals auslöste, findet sich oft nicht mehr in ihren neueren Stücken und die Überraschung durch Slapstick und akrobatisches Risiko ist ihre Sache nicht mehr.

Das beliebte Repertoire wird zwar weitergespielt, „Allee der Kosmonauten“ von 1996, das eine Familie in der Enge rund um ihren Wohnzimmertisch belauert, war Anfang März auch in der Volksbühne zu sehen. Klaus Dörr, der Interimsintendant des großen Hauses, hat dies in die Wege geleitet. Und eben auch eine Uraufführung mit Sasha Waltz vereinbart.

Nun sollte man jedem Künstler Veränderung zugestehen, Weiterentwicklung, neue Schwerpunkte. Das heißt im Fall von Sasha Waltz, sich von der Vielfarbigkeit und szenischen Alltagskarikaturen zu verabschieden, hin zu einer Reduktion in Schwarz und Weiß, zu Geometrie und dem leeren Raum. Aber es fällt doch schwer, die früheren Stücke von Sasha Waltz nicht als Messlatte zu nehmen.

„Rauschen“ beginnt in einer klinisch kalten Welt. Sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer bewegen sich eckig und kantig, als wären sie nicht ganz im eigenen Körper zu Hause. Das hat nicht nur etwas von Robotern, sondern auch vom Verlust eines Grundvertrauens, als gäbe es kein Bei-sich-Sein mehr. Sie krallen die Zehen, als müssten sie sich festklammern am Boden, sie staksen steifbeinig, sie drehen den Kopf und heben den Arm mit dem Ruckeln von mechanischen Gliedern, die noch nicht rund laufen. Einzelne Stimmen erheben sich, beklagen Verluste, vermissen den Freund, die Haut, Berührung. Andere beruhigen, alles wird gut, aber es gibt keinen Grund ihnen zu glauben. Im Hintergrund sind manchmal Reste von Musik zu hören, als ob ein letztes Radio spielen würde, das aber keinen Sender mehr lange halten kann. Dann übernimmt ein Maschinenrhythmus den Raum akustisch und bald folgen ihm auch die Körper der TänzerInnen. Bis die Gruppe wieder zerfällt in Einzelaktionen, die teils angesagt werden wie aus einem Katalog. Jetzt ist „Fröhlichen guten Morgen“ dran.

Dieser erste Teil von „Rauschen“ ist berührend. Er ist ein wenig Science-Fiction, vom Blick in eine Welt, die dem Individuum noch mehr von der Kontrolle über sich und seinen Körper entzogen hat, als wir jetzt schon erleben. Am Rundhorizont der großen Bühne ist eine große Leinwand aufgespannt, erst leer, auf die bald mit Sprühfarbe geschrieben wird, „Now“ und „alive“ steht da in großen schwarzen Buchstaben und zerrinnt wieder. Wie etwas nicht mehr zu fassen ist, das doch eben noch das Leben schien, dafür findet die Choreografin mit ihrem Ensemble einige starke Bilder.

Dennoch denkt man auch bei diesem Teil an „Körper“ zurück, das Stück, mit dem Waltz 1999 eine neue Spielzeit an der Schaubühne eröffnete, als sie mit ihrem Mann, dem Produzenten und Dramaturgen Jochen Sandig, und mit Thomas Ostermeier ein neues Intendantenkollektiv an der Schaubühne bildete. Wie „Körper“ von der Kapitalisierung des Menschen und vom Zerfall von Gemeinschaft erzählte, war für Berlin eine Innovation im Tanz und im Tanztheater.

„Rauschen“ hat wieder viel von den damaligen Qualitäten. Aber die Erzählung von der Unbehaustheit in der eigenen Haut, von der gestörten Beziehung nicht nur zu den Nächsten, sondern auch sich selbst, ist jetzt schon viele Male gehört und gesehen worden.

Dennoch gibt es großartige Momente in „Rauschen“, etwa wenn sich auf dem Rundhorizont die Linien schwarzer Farbe allmählich zur Fläche verdichten und dann ein Gebirge daraus wächst. Von oben fällt Wasser, das Rauschen ist jetzt Regen, wäscht die Farbe wieder aus, schmilzt das Große wieder klein. Davor stehen Tänzerinnen in weißen Kleidern aus Papier, das Wasser spült sie ihnen vom Leib. Nackt setzen sie sich hin und schauen dem Verschwinden des Berges zu.

Wäre das doch das Ende des Stückes gewesen. Aber die Tänzerinnen kommen zurück, barbusig und mit langen schwarzen schwingenden Röcken und beginnen jetzt in einem andern Stil zu tanzen, expressiver, klassischer, mythischer, als ob die Nachkriegszeit gerade erst um die Ecke verschwunden wäre. Das Publikum sinkt ermattet in die Sitze zurück. Als ob ein zweites Stück beginnen würde, mit einer etwas floskelhaften choreografischen Handschrift, die in den Armgesten nach Großem strebt, durstig nach Ritualen und Gemeinschaft scheint, aber doch eher unangenehm theatralisch wirkt.

Ja, murmelt man später (unter Tanzkritikerkollegen in der U-Bahn), konnte der Dramaturg da nicht sehen, dass dies überflüssig ist und dem Stück eher schadet? Nun ja, konnte er vielleicht nicht, der Dramaturg Jochen Sandig ist eben seiner Frau Sasha Waltz auch sehr nahe.

Rauschen in der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, 9./10. 3, 25.-28. 4.