Ende einer großen Epoche

Real Madrid verspielt mit der 1:4-Heimpleite gegen Ajax Amsterdam seine letzte Titelchance. Weil der Klub sich schon seit Längerem in Selbstgefälligkeit verliert, sieht man sich nun mit etlichen Baustellen konfrontiert

Unfassbar: Real-Torhüter Torhüter Thibaut Courtois muss schon wieder Ball hinher­herschauen Foto: reuters

Aus Madrid Florian Haupt

Fünf Minuten Nachspielzeit: als ob es die noch brauchte. Fünf endlose Minuten vor bereits leeren Rängen, denn natürlich konnte es kaum noch einer mitanschauen, der es mit Real Madrid hielt. Die Fans hatten am vorigen Mittwoch gesehen, wie ihre Mannschaft aus dem nationalen Pokal ausschied; am Samstag, wie sie die letzte Meisterschaftschance vergeigte. Nun erlebten sie, wie sie nicht mal der ewige Europapokal-Fetisch ihres Vereins erlöste. 1:4 gegen Ajax Amsterdam in der Champions League. Verteidiger Nacho holte sich aus Frust noch einen Platzverweis ab. Dann war es vorbei, dann gingen sie vom Platz. Ganz langsam, unendlich müde.

„Ich habe noch nie so ein Gefühl von Unbehagen gehabt“, räumte Dani Carvajal ein, während die Presse ihre Schlagzeilen von der „tragischen Woche“ (As) und dem „Scheitern des Jahrhunderts“ (Marca) verfasste. Mitspieler Nacho, ebenfalls Real-Eigengewächs, orakelte düster: „Wir sind nur Spieler, wir treffen keine Entscheidungen. Aber ich nehme mal an, dass das einen Wendepunkt für den Klub markiert.“

Der Wechsel von Zyklen und Generationen gehört zu den Gesetzen des Lebens, und so mochte man in einer denkwürdigen Nacht auch hierin ein Symbol sehen: das Alte wurde vom Jungen beseitigt. Nicht der FC Barcelona, der in den vergangenen Tagen zweimal auf eher pragmatische Weise bei Real Madrid gesiegt hatte, setzte die Unterschrift unter die Sterbeurkunde einer Epoche – sondern die Himmelstürmer von Ajax Amsterdam mit einem furiosen Offensivauftritt. Eine wunderbar optimistische Mannschaft, die munter drauflos stürmt zu dem Lieblingslied ihrer Fans, „Three little birds“ von Bob Marley: „Mach dir keine Sorgen über nichts / denn alles wird in Ordnung sein“.

In Ordnung? Nein, in Ordnung war eigentlich nichts. Jedenfalls nicht in der angestammten Ordnung der letzten Jahre, in der ein paar europäische Großklubs um die Champions League spielten und am Ende immer Real Madrid gewann. In der andere Vereine keine Chance hatten, und die aus kleinen Ländern mit kleinen Fernsehmärkten und kleinen Budgets schon mal gar nicht. An diese Ordnung mag auch Sergio Ramos gedacht haben, als er sich in der vorletzten Minute eines 2:1 im Hinspiels noch die Gelbe Karte abholte, um im Rückspiel gesperrt zu sein – was sollte schon passieren?

Ramos setzte damit den Sargnagel für eine Mannschaft, die schon vorige Saison zu einem großen Teil nur noch von seinem feurigen Wettbewerbsgeist gelebt hatte. Zu einer belastbaren Regelmäßigkeit war sie schon nicht mehr in der Lage, die Meisterschaft ging klar verloren. Nun erkannte Ajax-Trainer Erik ten Hag schon vor dem Spiel: „Ramos’ Ausfall ist eine offene Wunde für Real.“ Er wusste ja: Die anderen Säulen waren sowieso weggebrochen. Der Torlieferant Cristiano Ronaldo – 450 Tore in neun Saisons bei Real – nach Turin verkauft. Die Spezialangriffswaffe Marcelo – völlig außer Form und seit Wochen auf die Bank degradiert. Das prägende Mittelfeld aus Luka Modric, Casemiro und Toni Kroos – nicht mehr in der Lage, ein Spiel zu dominieren.

„Ich nehme an, das ist ein Wendepunkt für den Klub“

Real-Verteidiger Nacho

In Madrid wünschten etliche Anhänger ihren Präsidenten Florentino Pérez auch deshalb zum Teufel, weil er in den letzten Jahren die großen Ausgaben gescheut hat. Die Mannschaft nicht erneuerte, ihr Role Model Ronaldo verkaufte, ohne es zu ersetzten – sie in Selbstgefälligkeit ersticken ließ. Das ist auf der einen Seite nichts Ungewöhnliches. Kaum ein Champion hat es je geschafft, einen Umbruch zu antizipieren. Aber Real ließ sich nicht mal wachrütteln, als Trainer Zinédine Zidane im vorigen Sommer hinwarf.

Jetzt sind die Baustellen überall. Während Pérez einen 575-Millionen-Euro-Kredit für einen Luxusumbau des Stadions aufgenommen hat, fragt sich die Presse, ob er nicht mal lieber einen Sportdirektor anstellen sollte. Nach jetzigem Stand wird also er einen Trainer für die nächste Saison anheuern und er wird im Kader ausmisten lassen. Die degradierten Gareth Bale, Marcelo und Isco gelten als sichere Abgänge, aber es könnte auch Überraschungen geben. Die Presse führt auch Toni Kroos auf ihren Streichlisten.

Der Deutsche, der das 0:1 mit einem Ballverlust verschuldete, hat in Real schwarzer Woche seinen Status als Unabdingbarer verloren. Fürs Erste geht es nun darum, nicht auch noch die Champions-League-Teilnahme für nächste Saison zu verspielen. Ein anderes Lieblingslied der Ajax-Fans könnte dabei helfen: „Always look on the bright side of life.“ Der Spott schwang dabei unüberhörbar mit, in der historischen Nacht von Madrid.