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Mit dem Rad zum Draht

In Estland ist Fahrradurlaub noch echtes Abenteuer. Dafür entschädigt der baltische Kleinstaat mit Naturerlebnissen vor allem auf den großen Ostsee-Inseln Saaremaa und Hiiumaa

Hinkommen: Fähren verkehren von Travemünde nach Helsinki, von dort weiter nach Tallinn und Liepaja in Lettland (www.finnlines.com, www.stenaline.de). Mehrere Fluggesellschaften fliegen aus Norddeutschland nach Tallinn. Es gibt mehrere Busverbindungen in die baltischen Staaten, zum Beispiel Eurolines (www.eurolines.de).

Durchkommen: Bikeline-Radtourenbuch „Finnland – Ostseeküste Baltikum“, Verlag Esterbauer (www.esterbauer.com). Cyclos-Fahrrad-Reiseführer „Baltikum per Rad“, Verlag Wolfgang Kettler (www.kettler-verlag.de). Die Karte „Eesti Rattateed (Estonian Cycle Routes)“ (Regio-Verlag) ist eine Übersichtskarte zum Radwandern in Estland. Bezug etwa über Geobuchhandlung Kiel (www.geobuchhandlung.de).

Von Reimar Paul

Es ist Samstagmorgen, und auf der Fähre von Helsinki nach Tallinn herrscht Partystimmung. Junge FinnInnen nutzen das Wochenende zu einem Trip über die Ostsee in die rund 80 Kilometer entfernte estnische Hauptstadt mit den günstigen Alkoholpreisen. Auf dem Achterdeck glühen sie schon mal vor mit Bier aus Dosen und den Hits des Sommers aus dem Smartphone.

Tallinn, das eine eigene Reise wert wäre, ist der Startpunkt für unsere zweiwöchige Radtour entlang der estnischen Ostseeküste und über die größten Inseln. Wir verlassen die Stadt in Richtung Westen und erreichen Paldiski. Die Kleinstadt verströmt Atmosphäre wie aus einem Endzeit-Film. Heruntergekommene Plattenbauten, lange Straßen aus rissigem Beton, auf denen kein Mensch zu sehen ist, halb verfallene Mauern, am Hafen rostige Absperrungen und viel Stacheldraht.

In Paldiski waren Teile der sowjetischen Atom-U-Boot-Flotte stationiert. In einem Trainingszentrum übten angehende Marineoffiziere an einem Atomreaktor. Bis 1990 lebten hier 15.000 russische Soldaten und ihre Familien, der übrigen Bevölkerung war der Zugang in die abgesperrte Stadt streng verboten. Mit der Unabhängigkeit Estlands gab die Rote Armee den Standort auf, die meisten Militärs verließen Hals über Kopf die Stadt. Die beiden Reaktoren schalteten sie noch ab, einen Großteil des nuklearen Schrotts ließen sie zurück. Verarmt und isoliert leben die verbliebenen rund 4.000 Russen unter sich.

Bäume. Überall Bäume. Kiefern vor allem und Birken, dazwischen mal eine Lärche oder eine Pappel. Rund 50 Prozent der Fläche Estlands ist von Wald bedeckt – auch auf den Inseln. Davon gibt es rund 2.000, aber nur 20 sind bewohnt und noch weniger mit Fähren oder über Dämme zu erreichen. Nur Hiiumaa, Saaremaa und Muhu – die drei größten – verfügen über eine leidliche Infrastruktur. Dafür gibt es eine vielfältige Flora und Fauna. Auch Wölfe, Braunbären und Luchse, Elche und Hirsche sollen über die Inseln streifen, zu Gesicht bekamen wir sie leider nicht.

Weiß und wuchtig ragt er in den Himmel: Die Halbinsel Köpu im Westen von Hiiumaa beherbergt den drittältesten Leuchtturm der Welt. Die Hanse ließ ihn zu Beginn des 16. Jahrhunderts errichten. An der äußersten Spitze Köpis, die nur auf sandigen Wegen zu erreichen ist, empfängt uns Karibik-Feeling. Blau, grün und türkis schimmert die Ostsee, der Strand ist schneeweiß, in einer aus Holzbalken zusammengezimmerten Kneipe dröhnt Reggae-Musik. Dahinter ein Zeltlager, Jugendliche treffen sich hier zum Surfen, Stand-up-Paddling und Chillen.

Wie im Brennglas spiegelt sich auf Saaremaa, der benachbarten größten Insel Estlands, die wechselvolle Geschichte seit dem 13. Jahrhundert. Zunächst herrschten hier die Ritter und Kaufleute des Deutschen Ordens, danach Dänen, Schweden und Russen in ständigem Wechsel. 1917 wurde die Insel von den Deutschen erobert, die nach dem Waffenstillstand von 1918 wieder abzogen – mit der im selben Jahr proklamierten ersten Unabhängigkeit Estlands wurde die Insel Teil des neuen Staates. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Insel erneut von Deutschen besetzt, zahlreiche Bewohner wurden 1944 deportiert. In der Nachkriegszeit blieb Saaremaa nahezu isoliert vom Festland. Als Außenposten der Sowjetmacht waren fast alle Inseln Sperrgebiet: Fluchtgefahr. Erst mit der zweiten estnischen Unabhängigkeit konnte sich die Insel langsam entwickeln.

Auf Fahrradtouristen ist das Land aber noch nicht recht eingestellt. Nicht nur wegen der fehlenden Radwege. Auch eine durchgängige Rad-Beschilderung gibt es nicht. Trotz „Bikeline“-Karte und Navi haben wir uns mehrfach verfahren. Ausgewiesene Strecken wie die Euro-Velo-Route 10, der Ostseeküsten-Radweg, endeten im Nichts oder waren durch Tore oder Drahtverhaue versperrt.

Ein Café oder einen Laden suchten wir an manchen Tagen vergebens. Abseits der größeren Städte – und davon gibt es nicht gerade viele – sind auch die Übernachtungsmöglichkeiten rar. Wer nicht zeltet, ist oft auf Holzhütten auf Campingplätzen mit ganz niedrigem Standard angewiesen.