Unter Brücken und in Schöneberger Hütten

ERKUNDUNG Auf den Spuren von Henry David Thoreau, John Cage und der Atombombe: In „Urbanscapes“ werden die Besucher auf einen choreografischen Walk rund um den Innsbrucker Platz geschickt

Entrückend ist die Tour durch die gelungene Performance von Tänzern, die wie zufällig die Wege kreuzen

Dieser Treffpunkt hätte John Cage sicher gut gefallen: Unter der Autobahnbrücke am Innsbrucker Platz rauscht der Feierabendverkehr gleichmäßig von oben, rechts daneben auf der Hauptstraße hupen die Busfahrer die Fußgänger an, die bei rot über die Ampel hetzen, dahinter hört man entfernt die Ringbahn quietschen. Und wenige Schritte weiter steht man in einem Rosengarten, immer noch von Lärm umrauscht.

Der Komponist John Cage, der vor 100 Jahren geboren wurde, ist einer der Ideengeber für „Urbanscapes“, einen choreografischen Walk von drei Stunden Länge rund um den Innsbrucker Platz. Der andere ist Henry David Thoreau, US-amerikanischer Schriftsteller und Philosoph des 19. Jahrhunderts, dessen Gang in die Natur und Konzept des „zivilen Widerstands“ regelmäßig Anknüpfungspunkte findet. Auch Cage beschäftigte sich mit Thoreau und verfasste 1972 das Stück „Mureau“, bei dem Fragmente aus „Walden“ rezitiert werden.

„Wir fragten uns, wie wir die Triebkräfte und den Widerstandsgeist der romantischen Natursehnsucht aufnehmen können, um die Wahrnehmung unserer heutigen Stadt-Landschaft zu gestalten“, beschreiben die beiden Stückentwickler, der Regisseur Jörg Lukas Matthaei und der Choreograf Ingo Reulecke, die Intention ihrer Arbeit. Es geht ihnen um einen Perspektivwechsel der alltäglichen Wahrnehmung, einer Erfahrung des Naturhaften im Urbanen. Nach vielen Recherchen haben sie diese Ecke Schönebergs dafür als geeignet befunden.

Mit Funkkopfhörern

Mit Funkkopfhörern ausgestattet, folgen die Besucher einem Guide, der einen roten Pfeil in die Höhe hält. Man hört Musik von Cage, dazwischen immer wieder Zitate Thoreaus und von Menschen, die seine Ideen auf ganz unterschiedliche Weise verwendeten. Dazu gehört der „Unabomber“ Ted Kaczynski, der die USA in den achtziger und neunziger Jahren per Briefbombenattentaten zurück ins vorindustrielle Zeitalter katapultieren wollte und wie Thoreau wie ein Eremit in einer Waldhütte lebte.

Die Montage der Gedanken lässt kaum Raum für genießende, sinnliche Erfahrung. Hinzu kommt, dass die historischen Schichten des belaufenen Viertels eine zusätzliche Ebene einbringen, die weniger beschaulich als schwer verdaulich ist: Der Walk geht zu einem bunt angestrichenen Hostel, in dem einst ein Asylbewerberheim untergebracht war, und beobachtet aus der Ferne ein 1957 errichtetes Hochhaus, das den Bewohnern einst als „atombombensicher“ angepriesen wurde.

Wirklich entrückend ist die Tour weniger in ihren vielstimmigen Verweisen, die man nur schwer zusammenbringt, als in der gelungenen Performance der Tänzer, vor allem der beiden virtuos agierenden Protagonisten Katharina Meves und Franz Rogowski. Die Tänzer schleichen so zufällig um die Besucher herum, dass es selbst dem geschulten Auge schwerfällt zu erkennen, wann die Wirklichkeit zur Bühne wird. Ist der Mann mit der Einkaufstüte oder die schlafende Frau auf der Parkbank schon Teil des Stücks? Nach und nach nehmen sie Motive des Gehörten in ihre Bewegungen auf – etwa wenn Rogowski als Individuum im Grenzzustand an der Autobahnbrücke turnt. Auch wenn man nicht jede Szene einzuordnen versteht, sind sie alle schön anzusehen. Und mindestens der Schluss der Veranstaltung ist absolut leicht verdaulich, wenn die Tänzer die Besucher in „Shins Karaoke“ entführen, eine echte Schöneberger Hütte.

JESSICA ZELLER

■ „Urbanscapes – die hütte, die stadt & der toteissee. Ein choreographischer Walk am Innsbrucker Platz“. 21.–23. September, Beginn 18 Uhr. Startpunkt unter der Autobahnbrücke am S-/U-Bahnhof Innsbrucker Platz. Dauer ca. 3 Stunden