„Die
Kinder
dürfen
nicht
verschwinden“

Samiah El Samadoni ist Bürgerbeauftragte für soziale Angelegen­heiten des Landes Schleswig-Holstein. Für Kinder und Jugendliche in den Heimen müsse der Schulbesuch die Regel werden, fordert sie. Bei den meisten von ihnen sei dies möglich

Interview Kaija Kutter

taz: Frau El Samadoni, Sie leiten in Schleswig-Holstein die Beschwerdestelle für Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen leben. Was gibt es für ein Problem mit der Beschulung?

Samiah El Samadoni: In Schleswig-Holstein leben circa 3.000 Kinder und Jugendliche, die zwar hier in Heimen leben, aber nicht der Schulpflicht unterliegen, weil sie von Jugendämtern aus anderen Bundesländern untergebracht wurden. Schleswig-Holstein steht damit relativ allein. Die meisten anderen Bundesländer regeln das anders. Dort ist ein Kind dort schulpflichtig, wenn es im Land seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ hat.

Wie wirkt sich diese rechtliche Lage denn aus?

Aus meiner Beratungspraxis sind mir konkrete Fälle bekannt, in denen Kinder und Jugendliche zum Teil über Jahre hinweg Heim-intern unterrichtet wurden. Ganz konkret in meinem ersten Tätigkeitsbericht erwähnt habe ich den Fall eines 16-Jährigen Jungen aus Bayern, der drei Jahre lang in einer „schulvorbereitenden Maßnahme“ war. Dies ist keine Maßnahme der Schule, sondern der Kinder- und Jugendhilfe. Der Junge hatte letztlich keinerlei Schulabschluss und auch keine Chance mehr, diesen noch zu erwerben, ihm blieb dann lediglich die Perspektive auf eine Tätigkeit in einer geschützten Werkstatt.

Es heißt, es gehe hier um Kinder, die nicht beschulbar sind.

Foto: dpa

Samiah El Samadoni, 48, ist Juristin, Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten und seit Januar 2016 Ombudsperson in der Kinder- und Jugendhilfe Schleswig-Holsteins.

In einigen Fällen ist es sicherlich so, dass Kinder, die zum Beispiel sehr fremdaggressiv sind, zunächst keine Regelschule besuchen können. Der Junge im genannten Beispielfall wäre durchaus beschulbar gewesen. Er hatte eine Störung im Autismus-Spektrum, aber er hätte aus meiner Sicht mit einer Schulbegleitung zur Schule gehen und einen Abschluss machen können. Das gilt auch für andere Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im sozial-emotionalen Bereich, die sind beileibe nicht alle „auf den Kopf gefallen“ oder stellen immer eine Gefahr für sich oder andere dar.

Was spricht gegen Heim-interne Beschulung?

Diese Heim-internen Beschulungsmaßnahmen unterliegen als Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe keiner richtigen Qualitätskontrolle durch das Bildungsministerium. Zudem ist es für die Kinder wichtig, zur Schule zu gehen, damit sie außerhalb der Einrichtung Kontakte knüpfen und Freunde finden können, damit sie sichtbar werden und nicht einfach in einer entlegenen Einrichtung „verschwinden“. Das ist eine der Erkenntnisse des runden Tisches Heimerziehung und des parlamentarischen Untersuchungsausschusses „Friesenhof“ in Kiel. Es mag immer mal Einzelfälle geben von Kindern oder Jugendlichen, die nicht beschulbar sind. Aber dies sollte bei Heimkindern nicht als Regelfall gelten.

Wie viele Kinder gehen nicht zur Schule?

Die bisherige Rechtslage widerspricht unseres Erachtens auch Artikel 10 zum Schutz von Kindern und Jugendlichen der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, denn das uneingeschränkte Recht auf Bildung ist auch zentrales Recht von Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein“

Verband privater Träger

Das ist nicht abschließend geklärt. Wir haben im Land etwa 6.500 Heimplätze. Die Bildungsministerin hatte im Mai 2018 im Bildungsabschluss vorgetragen, dass alle schulpflichtigen Kinder beschult würden. Sie berichtete von insgesamt 3.373 Kindern und Jugendlichen, von denen elf Prozent Heim-intern beschult würden und die übrigen zur Schule gingen. Dazu kommen aber auch die Heimkinder, die aus einem anderen Bundesland kommen und deshalb nicht schulpflichtig sind. Und Stand November 2017 gab es 2.934 Kinder und Jugendliche, die ihren Hauptwohnsitz nicht in Schleswig-Holstein hatten, also formell nicht schulpflichtig waren. Ich habe jetzt kürzlich Gespräche mit den Ministerien für Bildung und für Soziales geführt. Es sollen in diesem Jahr alle Träger von stationären Einrichtungen angeschrieben werden, wie viele Kinder aus anderen Bundesländern bei ihnen untergebracht sind und wie diese beschult werden. Wir brauchen dringend eine klare Faktengrundlage, wir müssen in jedem einzelnen Fall prüfen können, ob ein Kind richtig beschult wird. Und wir müssen schulvorbereitende Maßnahmen in Heimen auch in Hinblick auf deren Qualität und Geeignetheit überprüfen.

Das Thema beschäftigte ja nun wieder den Landtag.

Ja, der SSW hat vor einem Jahr die Schulpflicht für Heimkinder beantragt. Das wurde leider abgelehnt mit den Stimmen von Jamaika. Und auch ein neuer Antrag der SPD kam zu diesem Punkt nicht durch. Zumindest wird man aber seitens der Landesregierung versuchen, Transparenz zu den genauen Zahlen der betroffenen Kinder herzustellen.

Warum tut sich die Politik so schwer damit?

„Abschließend weisen wir darauf hin, dass durch die im Gesetzentwurf enthaltene Änderung einige Schulstandorte im besonderen Maße betroffen wären und mit entsprechenden Kapazitätsengpässen zu rechnen wäre, die weder kurz- noch mittelfristig behoben werden könnten

Schleswig-Holsteinischer Landkreistag

Das Bildungsministerin fürchtet zum Beispiel eine Überforderung der kommunalen Strukturen, wenn alle Kinder plötzlich in den öffentlichen Schulen beschult würden. Dies ist nachvollziehbar, aber ich halte dies für lösbar. Es wurde aber keine Lösung vorgetragen, um diesen Bedenken zu begegnen. Die Lösung kann meiner Meinung nach jedenfalls nicht heißen, dass die Kinder nicht schulpflichtig sind. Ich halte dies für lösbar.

Es gibt ja seit November 2017 einen „Erlass“, der regelt, dass neue Heimkinder unverzüglich den Schulaufsichtsbehörden gemeldet werden müssen und auch alle ein Recht auf Schulbesuch haben. Warum reicht dies nicht?

Wie gesagt, es sind noch keine Zahlen da. Wir wissen nicht, wie viele Heimkinder nicht zur Schule gehen. Es müssten erst mal alle Träger auf den Erlass hingewiesen werden. Ich sehe die Gefahr, dass Kinder nicht zur Schule geschickt werden, aus anderen Gründen. Böse gesagt könnte es auch sein, dass ein Kind in die Heimbeschulung kommt, weil da gerade ein Platz frei ist. Oder weil es zu mühsam ist, eine Schulbegleitung zu organisieren. Es gibt auch Träger, die mit Heimbeschulung werben. Gibt es erst mal die Schulpflicht für alle Kinder, wäre das Schulamt und nicht das Heim am Zug, für die Beschulung zu sorgen. Sicher, es wird weiter Ausnahmen geben, aber wir müssen das Regel-Ausnahmeverhältnis umkehren, davon bin ich überzeugt.