Nicht ohne meinen Richter

Das Hamburger Verwaltungsgericht verbietet nächtliche Razzien bei Ausreisepflichtigen ohne richterlichen Beschluss. Die Hamburger Ausländerbehörde will gegen das Urteil vorgehen und bleibt vorerst bei der Praxis

Im Dunkel der Nacht mag es sich leichter abschieben, aber das allein macht nächtliche Razzien nicht rechtmäßig Foto: Maurizio Gambarini/dpa

Von Kai von Appen

Nächtliche Razzien von Ausländerbehörde und -polizei bei Asylsuchenden, um Ausreisepflichtige aufzustöbern, könnten in Hamburg tabu werden. Das geht aus einer Grundsatzentscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg unter Berufung auf die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes hervor.

Die Wohnräume in einer staatlichen Unterkunft hätten nicht ohne richterlichen Beschluss betreten und durchsucht werden dürfen, urteilte das Verwaltungsgericht in einem Verfahren, das die kirchliche Hilfsstelle für Geflüchtete „Fluchtpunkt“ in der Hansestadt angestrengt hat. Auf die im Hamburger Vollstreckungsrecht festgelegten Betretens- und Durchsuchungsrechte hatte sich das für die Ausländerbehörde zuständige Einwohnerzentralamt berufen. Doch das Verwaltungsgericht verwies auf ein Urteil des Verfassungsgerichts. Demzufolge sind Flüchtlingsunterkünfte als Schutzräume gedacht, in denen sich „räumliche Sphäre“ und „Privatleben entfalten“ sollen und deshalb als geschützte Wohnung nach Artikel 13 Grundgesetz anzusehen sind.

Zugang mit dem Universalschlüssel

Laut Christiane Schneider von der Hamburger Linkspartei gehören nächtliche Razzien zunehmend zur Abschiebepraxis der Stadt. So auch in der Nacht des 16. Februar 2017, als ein Tross von Polizei, Ausländerbehörde und Hamburger Landeskriminalamt (LKA) vor der Wohnunterkunft für Asylsuchende am Curslacker Neuer Deich vorfuhr, in der in Hamburg-Bergedorf 360 Geflüchtete und Obdachlose in separaten Wohneinheiten leben. Ein jesidisches Ehepaar aus dem Irak mit zwei Kindern sollte nach dem EU-Dublin-III-Abkommen in die Niederlande abgeschoben werden, nachdem es zuvor zur Ausreise aufgefordert worden war. Sein Asylantrag war vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) abgelehnt worden, da die Familie zuvor in Holland Asyl beantragt hatte.

Die Beamten verschafften sich mit einem Universalschlüssel, den ihnen Fördern und Wohnen, der städtische Träger der Unterkunft, zur Verfügung stellte, Zutritt zum Container mit den beiden Wohnzimmern und überraschten die Familie im Schlaf. Die durfte auf die Schnelle nur das Notwendigste zusammenpacken, die Möglichkeit einen Rechtsbeistand zu Hilfe zu holen, gab es nicht.

Da die Frau zu dem Zeitpunkt hochschwanger war und über Unterleibschmerzen klagte, musste ein Rettungswagen alarmiert werden, sodass die Ausländerbehörde vorsichtshalber von einer Abschiebung absah. Nur der Vater und die beiden zehn und sieben Jahre alten Kinder wurden in den folgenden Stunden nach Holland gebracht.

Vor dem Verwaltungsgericht argumentierte das für die Ausländerbehörde zuständige Hamburger Einwohnerzentralamt, dass es sich bei der nächtlichen Polizeiaktion nicht um eine „Durchsuchung“ im förmlichen Sinne gehandelt habe, sondern lediglich um ein „Begehung“. Durch diese „Nachschau“sollte sichergestellt werden, dass sich alle ausreisepflichtigen Familienmitglieder in dem Containern befanden.

Das lässt das Verwaltungsgericht nicht gelten. Ungeachtet der Frage, wie intensiv das Durchstöbern der Wohnung gewesen sei, sei bereits das Eindringen in die Wohnräume ohne Einwilligung der Betroffenen laut Artikel 13 des Grundgesetzes ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzbarkeit der Wohnung, urteilten die VerwaltungsrichterInnen. Anders als eine Justizvollzugsanstalt gelte eine Erstaufnahmeeinrichtung nicht als geschlossene Einrichtung. „Das Asylgesetz verwendet selbst den Begriff des Wohnens“, konstatiert das Gericht.

Abschiebung tagelang vorbereitet

Kennzeichnend für die Durchsuchung sei die Absicht, etwas vielleicht Verborgenes aufzufinden. „Auch in kleinen Zimmern eines Wohncontainers kann es insbesondere für Kinder Möglichkeiten geben, sich verborgen zu halten“, so die RichterInnen. Zudem sei die Abschiebung der Familie von der Ausländerbehörde tagelang vorbereitet worden, sodass es laut Verwaltungsgericht keinen triftigen Grund gegeben habe, nicht vorher einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss zu beantragen.

„Wir haben die Bestätigung bekommen, dass Grundrechte für alle gelten“

Anne Harms, Flüchtlingshilfe Fluchtpunkt

Für die Flüchtlingshilfe Fluchtpunkt bedeutet das Urteil eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit. „Wir haben die Bestätigung bekommen, dass Grundrechte für alle gelten und dass es keine Erlaubnis gibt, in Wohnräume von Flüchtlingen einfach einzudringen“, sagt Fluchtpunkt-Leiterin Anne Harms der taz. „Auch wenn es eine öffentlichen Unterkunft ist – es ist ein schwerwiegender Eingriff und verfassungswidrig.“

Die Entscheidung habe eine weitreichende Bedeutung für die Hamburger Abschiebepraxis, erklären auch die Fluchtpunkt-und Familien-Anwälte Justus Linz und Carsten Gericke. Der Richtervorbehalt sei eine der zentralen rechtsstaatlichen Sicherungen gegen willkürliches Behördenhandeln. Die Regelung, dass eine Durchsuchung nur mit einer richterlichen Anordnung erfolgen dürfe, sei im Grundgesetz untermauert worden, damit nicht Menschen in ihren Wohnungen aufgesucht würden und dann unter Zwang verschwänden.

„Das Verwaltungsgericht hat klargestellt, dass die Ausländerbehörde nicht nach Gutdünken ohne einen vorherigen Gerichtsbeschluss in Asylunterkünfte eindringen darf, um Abschiebungen durchzusetzen“, bekräftigt Gericke. Was für Auswirkungen das Urteil auf die bisherige Praxis der nächtlichen Razzien zur Vorbereitung von Abschiebungen tatsächlich haben wird, kann Anne Harms von Fluchtpunkt nur vermuten. „Es wird nicht mehr so einfach gehen, denn ein Gericht verlangt Begründungen“, sagt sie.

Unbeeindruckt vom Urteil

Wegen des Grundsatzcharakters des Verfahrens hat das Verwaltungsgericht Berufung gegen das Urteil vorm Hamburgischen Oberverwaltungsgericht zugelassen. Davon wird das Einwohnerzentralamt Gebrauch machen. „Wir halten die Entscheidung für rechtlich unzutreffend“, schreibt dessen Sprecher Matthias Krumm der taz. Vorerst bleibt das Amt bei seiner Praxis: „Da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, werden wir weiterhin an unserer Rechtsauffassung festhalten, dass für die Durchsetzung der Ausreisepflicht im Wege der Abschiebung für das Betreten der Unterkunft der Betroffenen ein Durchsuchungsbeschluss nicht erforderlich ist.“