Mozart von innen betrachtet

Yuval Sharon hat an der Staatsoper Mozarts Singspiel „Die Zauberflöte“ neu inszeniert, mit lebenden Marionetten an Seilen

Tänzer und Julian Prégardien als Tamino Foto: Monika Rittershaus

Von Niklaus Hablützel

Nichts passt zusammen, die Spielfiguren sind nur Schablonen und am Ende steht eine langweilige Ersatzreligion tumber Männer. Aber genau dieses Stück, das noch nicht einmal eine Komödie ist, sondern nur die lose Textvorlage für den Wiener Komödianten Emanuel Schikaneder war, zählt zu den ewigen Klassikern des Abendlandes. „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“.

An der Berliner Staatsoper steht seit Jahrzehnten August Everdings Version in den Bühnenbild-Entwürfen von Karl Friedrich Schinkel auf dem Spielplan. Die Himmelskuppel in Blau mit den goldenen Sternen ist eine Ikone für Europa geworden.

Sie wird keineswegs abgesetzt. So viel Klassik für den Tourismus muss sein, schließlich liegt auch Mozarts Autograph in Berlin, in der Staatsbibliothek nämlich. Aber es gibt jetzt eine zweite Zauberflöte an der Staatsoper. Am Sonntag ist sie von einem wild entschlossenen Premierenpublikum lautstark abgelehnt worden, sogar Buhgeschrei auf offener Szene war zu hören. Das ist sehr gut, denn nun haben wir die Wahl: Mozart klassisch, oder unklassisch und ganz furchtbar.

Das Problem des klassischen Mozart allerdings ist nun mal der Text. Jede Regie bemüht sich darum, die dort lauernden Katastrophen zu umgehen und nach Möglichkeit alles zu streichen. Es gibt sogar Inszenierungen, in denen gar kein Text mehr gesprochen wird, in der Annahme, dass wir dieses Stück nur sehen wollen, weil Mozart die Musik geschrieben hat.

Über die unbegreifliche Schönheit dieser Musik muss man wirklich nichts mehr sagen, und sie wird auch in der neuen Zauberflöte der Staatsoper sehr gut gespielt und gesungen. Alondra de la Parra, kurzfristig als Ersatz für den Dirigenten der Proben eingesprungen, lässt die Staatskapelle angenehm zurückhaltend ruhig aufspielen, und Tuuli Takala schafft sogar die Königin der Nacht ohne die fast unvermeidlichen Fehler, die man immer verzeiht, weil diese Extremkoloraturen weder singbar noch schön sind.

Aber Yuval Sharon, dem 40 Jahre alten Amerikaner, der in Los Angeles ein eigenes Ensemble für Theaterexperimente aufgebaut hat, kommt es darauf gar nicht an. Er stellt die gesamte Aufführungstradition auf den Kopf und inszeniert den Text. Gar nichts wird gestrichen, im Gegenteil, es gibt neu hinzu geschriebene Passagen und sogar Regieanweisungen werden vorgelesen. Aber nicht die erwachsenen Männer und Frauen, die Mozart singen, müssen aussprechen, was es da noch alles zu sagen gibt.

Es sind die Stimmen von Kindern. Sie haben die Macht übernommen in diesem Theater, sie erzählen mit großem Eifer und Ernst, was alles passiert ist, oder auch nicht passiert und dann doch wieder ganz anders ist. Die Pamina ist entführt worden, die muss man jetzt retten, die Mutter ganz traurig, aber der Vogelfänger immer lustig, so geht es endlos weiter von einem Abenteuer zum anderen in einer traumhaften Welt von Geistern und Zauberkünsten.

Zu sehen sind diese Kinder jedoch nicht, denn sie erzählen sich ihre Geschichten nicht nur, sie lassen sie von Puppen auf einer Marionettenbühne aufführen. Das ist alles andere als eine neue Idee. Quellen der Zauberflöte gehen auf alte Marionettenstücke zurück und bis heute wird auch Mozarts Fassung immer wieder von Marionettentheatern gespielt, berühmt dafür ist die Augsburger Puppenkiste.

Doch Sharon vertauscht die Rollen radikal. Die wirklichen Sängerinnen und Sänger sind es, die am Seil hängen. Daraus entsteht ein spektakulär artistisches Spiel fliegender, hilflos und ungelenk zappelnder Figuren. Sie stecken in bunten, mal hautengen, mal üppig aufgebauschten Kostümen des belgischen Modedesigers Walter van Beirendonck, und die New Yorkerin Mimi Lien hat ihnen ein ebenso buntes, sehr variables Bühnenbild aus Traumlandschaften und ägyptischen Sa­kralmöbeln gebaut.

Über die unbegreifliche Schönheit dieser Musik muss man nichts mehr sagen

Prachtvoll ist das und wie geschaffen für das Ausstattungstheater des Schauspielers Emanuel Schikaneder, der in der Uraufführung von 1791 selbst den Papageno spielte. Mozart hat extra simple Liedchen für ihn geschrieben, und jetzt kehrt er zurück mit dem Wiener Florian Teichtmeister, Schauspieler am Burgtheater und im Fernsehen. Als Einziger in Sharons Welttheater der Kinder muss er beides können, sprechen und singen. Er kann beides und hängt nur am Seil, weil er tatsächlich halb Vogel, halb Mensch ist, wie es im Textbuch heißt.

Man kann das alles ausbuhen, am Ende jedoch sieht der klassische Schinkel-Mozart ziemlich alt aus. Bei Sharon nämlich blüht Mozarts Meisterschaft erst richtig auf. Seine unsterblichen Arien und Duette liegen wie Zauberinseln im unablässig sprudelnden Fantasiestrom der Kinder.

Es sind Ruhepunkte, keine dramatischen Spitzen, denn völlig richtig versucht hier niemand, mit emotionalen Klimmzügen zu überzeugen. Sie singen alle ein wenig vorsichtig, als ob sie lieber nur zuhören möchten. Mozart zuhören eben, ganz nah und von innen betrachtet, nicht mehr als das.

Richtig fröhlich war er bekanntlich nie, aber sehr ernst, so wie die Kinder, die zum Finale dann doch noch sichtbar werden, weil sie ihr Marionettentheater als kleinen, goldenen Kasten auf die Bühne stellen. Ganz große Oper.