Pop-Archäologie

Künstler Jorge Wittersheim hat ein verschollenes Video der Band Kolossale Jugend entdeckt. Sänger Kristof Schreuf erinnert sich

Schön 80er: die Band Kolossale Jugend aus der Hamburger Schule bei der ersten Pop-Komm Foto: Jorge Wittersheim

Von Kristof Schreuf

Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre erschienen in vielen Zeitungen mehrere erstaunte bis staunende Artikel und Rezensionen zu zwei Alben von Kolossale Jugend. Dabei handelte es sich um keine der erfolgreichsten, aber womöglich um eine der aufregendsten Bands der Ham-burger Schule.

Vor ein paar Wochen entdeckte der Künstler Jorge Wittersheim in seinem Archiv Filmaufnahmen, welche die Kolossale Jugend 1989 bei der ersten Pop-Komm in Düsseldorf zeigen. Es handelt sich um das erste und bisher einzige Live-Video der Gruppe. Ausschnitte daraus sind nun bei Youtube zu sehen.

Wie kam Wittersheim dazu, die Kolossale Jugend zu filmen? Was denken die Band-Mitglieder heute von dem Auftritt auf der Pop-Komm? Deren Sänger Kristof Schreuf hat bei dem Filmer und bei seinen früheren Band-Kollegen nachgefragt. Hier sein Bericht.

Jorge Wittersheim ist ein fröhlicher Macher. Seine gute Laune trieb ihn als jungen Menschen mit Synthesizer in die T-Stube in Rendsburg, wo er mit anderen zusammen Avantgarde-Musik aufführte. Als Kulturwissenschaftsstudent in Lüneburg lernte er Mitglieder von Hamburger Bands wie Ostzo-nensuppenwürfelmachenkrebs oder Die Sterne kennen, deren erste Konzerte er veranstaltete. Die Hochschule ermöglichte Wittersheim jedoch nicht nur neue Bekanntschaften, sondern auch den Zugang zu Equipment: „Ich konnte mir eine Kamera leihen, die mir wiederum freien Eintritt bei etlichen Veranstaltungen erlaubte.“

Eine davon findet Anfang Dezember 1989, ein paar Wochen nach der Öffnung der Berliner Mauer, in Düsseldorf statt. Jorge Wittersheim fährt nach Nordrhein-Westfalen, um im Zakk die erste Pop-Komm zu dokumentieren. Bei dieser Musikmesse treffen sich ein paar hundert Menschen, die Tonträger veröffentlichen, über sie schreiben oder selber Musik machen – manchmal auch alles zusammen.

Wittersheims Kamera flaniert durch junge Menschen hindurch. Sie passiert hintereinander den Stand einer großen amerikanischen Plattenfirma, dann den eines damals in Köln ansässigen Musikmagazins und schließlich den des „New Music Seminar – NYC“. Anschließend biegt sie nach links in einen Gang ab, an dessen Wänden Aschenbecher, Feuerlöscher, kleine Zettel und größere Transparente hängen.

Dazwischen lehnen Fanzine-Redakteure, welche jeweils die neuesten Ausgaben ihrer Blätter in den Händen halten. Am Ende des Gangs liegt rechts eine Tür, auf der „Notausgang“ steht. Dahinter öffnet sich ein Saal, in dem Kolossale Jugend spielt.

Die Konzertgäste sind jung – so jung wie die, die in den 1950er-Jahren das Wirtschaftswunder genossen, denen in den 1960er-Jahren die Erfindung der Anti-Baby-Pille das Leben erleichterte oder solche, die in den 70ern durch die Einnahme halluzinogener Substanzen persönliche Entdeckungsfahrten unternahmen.

Doch diese Ereignisse liegen im Jahre 89 lange zurück. Inzwischen hat sich die Rollenverteilung bei Konzerten geändert. Auf der Bühne sind weniger Musiker zu sehen als vielmehr versprengte Figuren mit Trommeln und Saiten, vor der Bühne welche ohne. Im Saal verteilen sich selbstermächtigte Künstler, die einer Band bei deren Selbstermächtigung zuschauen.

Der Bassist Klaus Meinhardt steht seitlich zum Publikum, während er sich wie eine Bambusstange um sein Instrument herumbiegt. Ab und zu sieht er zum anderen Ende der Bühne, wo der Gitarrist Pascal Fuhlbrügge in alle Richtungen schaut. Fuhlbrügge hackt mal mit der Stirn und mal mit dem Kinn in die Luft, fletscht die Zähne oder zieht die Lippen zu einer Schnute zusammen, während er hin- und her tigert. Meinhardt und Fuhlbrügge schlagen meistens von oben, schnell und in so schönem Zorn an wie der Schlagzeuger Christoph Leich sein Ride- und sein Crash-Becken. Dessen Kopf fährt genießerisch auf und nieder, als würde er ihn beim Kraulen ins Wasser tauchen, nach ein paar Schwimmzügen zum Luftholen heben und darauf erneut eintauchen.

Bassist Klaus Meinhardt steht seitlich zum Publikum, während er sich wie eine Bambusstange um sein Instrument herumbiegt

Allerdings ist trotz äußerer Bewegung das eine oder andere Bandmitglied innerlich gebremst: „Ich kam mir deplatziert vor“, erinnert sich Fuhlbrügge. Das lag „an der skandalös frühen Auftrittszeit“, erklärt Wittersheim. „Wir gingen auf die Bühne“, sagt Meinhardt, „während gleichzeitig noch Leute in Büros saßen oder bei Karstadt einkauften. Musikmachen fühlte sich unter diesen Umständen so öde an, wie ein Rotlichtviertel tagsüber aussah“.

Um von dieser „Nicht-Stimmung“ wegzukommen, hätten sie ihre Stücke schneller gespielt. „Aber dadurch nahmen wir ihnen ihre Kraft. Ich habe versucht, die Geschwindigkeit zu drosseln, doch niemand reagierte. Jeder steckte in seiner Haut, in seiner eigenen Empfindungsblase. Wahrscheinlich hat genau das der Band ihre Energie geliefert.“ Auch Wittersheim ist „dieses unglaublich hohe Energie-Level“ im Gedächtnis geblieben.

Nach dem Auftritt macht er sich auf den Weg zu einem von ihm organisierten Filmfestival, wo er die Regisseurin Maren kennenlernt, die ihn bald darauf heiraten und mit ihm drei Kinder großziehen wird. Heute betreibt Wittersheim das Kassettenlabel „Dadakaraoke!“, er legt in Hamburg Platten auf und gestaltet als Moderator und DJ das Rahmenprogramm bei den Basketballspielen seines jüngsten Sohns.

Musik ist für ihn ein Lebenselixier geblieben, auch wenn Freunde von ihm darin nicht mehr als eine Grille sehen: „Die halten das für bloße ‚Liebhaberei‘.“ Dagegen ließe sich einwenden, dass es ohne solche Liebhaberei das erste und bisher einzige Live-Video der Kolossalen Jugend nicht gäbe.