In Lust und Qual des Zuschauens

In einer Peepshow ohne Wisch-und-Weg-Papier: Eher als sie zu dramatisieren, inszeniert Rieke Süßkow in Braunschweig ein performatives Statement zu Schnitzlers Traumnovelle

Erschreckend: Die Frau, das Objekt, erweist sich als autonomes Subjekt und rückt mit ihrem eigenen Begehren dem Voyeur auf die Pelle Foto: Joseph Ruben/Staatstheater Braunschweig

Von Jens Fischer

Allein mit ihren erotischen Fantasien sind Fridolin und Albertine. Nicht dass das wohlsituierte Arztehepaar die Nächte in getrennten Schlafzimmern verbrächte: Handelsübliche Zärtlichkeiten sowie ab und an eine Kopulation werden sicher ordnungsgemäß ausgeführt. Aber nie haben die beiden über das Lustkino in ihren Köpfen gesprochen, das bei ihrer Selbstbefriedigung abläuft, nicht die unanständig guten Ideen thematisiert, die beim Vorspiel aufploppen und nicht die Sehnsüchte abgeglichen, während des anschwellenden Orgasmus einfach mal jedes vermeintliche Tabu zu vergessen.

Nach einer Party schleichen sich erstmals entsprechende Andeutungen ins eheliche Geplauder. Albertine will hinaus mit den „,verborgenen, kaum geahnten Wünschen“, um die Beziehung etwas prickelnder zu gestalten. Fridolin erschreckt seine plötzlich als Subjekt begehrende Frau. Verlustängste sind geweckt, Eifersucht erblüht. Und der Mut, die eigenen Gelüste zu erkunden.

Fridolin begibt sich auf eine nächtliche Odyssee, die Seelenerkunder Arthur Schnitzler 1925 nach Abgleich mit den psychologischen Theorien Freuds in seiner „Traumnovelle“ beschrieben hat. Rollenbilder und Beziehungen der Geschlechter haben sich seither geändert, dank medialer Pornografisierung der Sexualität sind ihre Spielarten kein Geheimnis und Partnertausch auch kein Fremdwort mehr.

Aber Schnitzlers Werk hat an Modernität nichts eingebüßt in der Darstellung des Gehirns als wichtigstem Sexualorgan. Denn dort entscheidet sich, welche Bilder, Berührungen, Töne, Gerüche erregen, welche Handlungen antörnen – und die Produktion körpereigener Botenstoffe befehligen, die das Verlangen nach Sex imaginieren. Dramatisiert passt der Stoff prima in einen Swingerklub, wurde schon im Wiener Stundenhotel „Orient“ und im Frankfurter Strip-klub „Pik Dame“ aufgeführt. Er funktioniert auch prächtig im Kontrast zu besonders plüschbürgerlichen Bühnenbildern im klassischen Theaterambiente.

Regisseurin Rieke Süßkow, Absolventin der Hamburger Theaterakademie, ließ nun am Staatstheater Braunschweig ein besonders reizvolles Schmuddel-Szenario auf die Bühne bauen: die Peep-Show. Seit 1982 in Deutschland zwar offiziell verboten, aber bis zum endgültigen Aus 2014 konnten Männer in solchen Etablissements der kommerziellen Schaulust hinter Glasscheiben masturbieren, während sich Frauen vor ihnen auszogen.

In Braunschweig werden nun zu jeder Vorstellung 30 Besucher vom Theaterpersonal an die Hand genommen und in Einzelkabinen rund um die Bühne platziert, um 60 Minuten allein mit sich zu verbringen. Eng ist es und stickig. Wisch-und-weg-Papier und Mülleimer zur Spermaspurenbeseitigung fehlen.

„Ach, wenn du wüsstest“, sagt sie. „Was meinst du damit?“, fragt er

Wer durch die Scheibe vor sich blickt – sieht erst mal das eigene Antlitz. Bei Lichtwechseln dann auch die anderen einsamen Voyeure. Das sind Theaterbesucher ja immer. Nun werden sie durch die Gucklochperspektive explizit darauf verwiesen. Sie erleben so aber auch Fridolins Situation: Im Traum zur Verarbeitung unterdrückten Begehrens lässt er sich auf keine Avancen ein, keine Orgien und keine „Fifty shades of Grey“-Szenarien – sondern verharrt in der Lust und Qual des Zuschauens.

Scheinwerfer illuminieren die Bühne. In flauschigem Plastiklila erstrahlt sie wie das Foyer eines Bordells. Aus Leder zwecks Sado-Maso-Assoziationen geschneidert sind die Biederkostüme der Darsteller, die blond perückte Sexpuppenmasken tragen und so komplett ano­nymisiert sind. Weit entfernt voneinander stehen Fridolin und Albertine, das Ehepaar: keine Vertrautheit, nirgends. Ihr Kind schicken sie ins Bett. Dann geht’s los.

„Ach, wenn du wüstest“, sagt sie. „Was meinst du damit?“, fragt er. So kitzeln sie sich langsam aus der Verschwiegenheit. Erste Berührungen haben erste Knistergeräusche aus den Lautsprechern zur Folge, die auch die Dialoge in die Zuschauerkabinen übertragen. Spazierschritte sind zu hören, ziellos. Fridolin ist auf der Suche nach seinen verborgenen, verdrängten Wünschen und Obsessionen. Da trifft er drei aggressive Unbekannte, die ausgelöste Angst macht ihn schon mal an. Ebenso die Tochter eines Kostümverleihers. Und eine Prostituierte.

Das könnte jetzt „gleichfalls mit dem Tod enden“, meint Fridolin. Bringt also die möglich tödliche Auseinandersetzung auf der Straße mit dem kleinen Tod zusammen, dem Orgasmus. Das Ableben eines Freundes, zu dem Arzt Fridolin zu spät gerufen wird, und so nur die Liebeserklärung von dessen Tochter zu hören bekommt, fokussiert ebenso das Leitmotiv der Inszenierung wie das Finale, wenn er in der Pathologie mit einer weiblichen Leiche tanzt. Fridolin liebt Grenzverletzungen und feiert die oft behauptete Verwandtschaft von Eros und Tod. Stolpert dabei aber existenzieller Verzweiflung entgegen: Was weiß man schon von anderen, wenn man sein Unbewusstes schon nicht kennt? Was kann man dann überhaupt wissen?

Nicht einmal geahnt hat er, was Albertine so träumt, was sie nun erzählt, nämlich frohlockt, „dich zu verhöhnen, ins Gesicht zu lachen“, und sich freut, wie er gefoltert wird – all das eine Art Bestrafung für Fridolins Missachtung ihrer Libido, würde Freud vielleicht analysieren.

In den Kabinen sind Zuschauer allein Foto: J. Ruben/Staatstheater BS

Also reichlich Intellektuellenfutter. Aber der Abend bleibt auf einem recht abstrakten Niveau. Die akustische und körperliche Artikulation ist streng getrennt. Mechanisch laufen die Interaktionen ab, Roboter-staksig sind die Bewegungen, deklamiert werden die Dialogfragmente.

Zu erleben ist minimalistisches Puppentheater, in sich geschlossen wie in einer Traumblase. Auf der Sprach- und Handlungsebene wird die psychologisch, philosophisch, atmosphärisch und sinnlich ausdifferenzierte Novelle allerdings bis zur Unkenntlichkeit reduziert, nur zentrale Momente sind betont blutleer ausgestellt, die Begegnungen der Figuren betont anti-erotisch dargestellt. Sie wirken komplett verloren ohne Einbindung in ihre Geschichte.

Was Rieke Süßkow ist vorlegt, ist weniger eine Inszenierung der „Traumnovelle“, denn ein performatives Statement dazu, das den Stoff allerdings auf den Punkt bringt. Denn ständig ist die Frage virulent, ob hier Menschen agieren – oder Marionetten agiert werden? Ob sie Herrscher im eigenen Haus sind – oder sich von Einflüsterungen führen lassen. Süßkows Antwort ist deutlich: Die Schauspieler werden gespielt – getrieben von einer Tonspur. Denn jedes Wort, jedes Geräusch ist vorproduziertes Hörspiel, die Bühnenaktion pantomimische Choreografie dazu. Nicht zur Animation des wilden Sexlebens im Kopf – sondern fürs nüchterne Nachdenken übers triebgesteuerte Dasein.

Staatstheater Braunschweig, Aquarium, heute, 8. 2., und Sa, 9. 2., jeweils 19.30 und 20.45 Uhr