Psychologe über Mobbing und Schulen: „Es gibt keine pauschale Antwort“

Was den Tod der elfjährigen Schülerin in Berlin betrifft, warnt Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer vor voreiligen Schlussfolgerungen.

Ein Mann und eine Frau vor einem Meer aus Kerzen und Blumen – die an ein totes Mädchen erinnern

Ein Meer aus Kerzen und Blumen vor dem Eingang einer Grundschule in Reinickendorf – hier ging eine 11-Jährige zur Schule, die gestorben ist Foto: picture alliance/Paul Zinken/dpa

taz: Herr Scheithauer, in den Medien kursiert die Meldung, eine elfjährige Grundschülerin habe sich wegen Mobbings das Leben genommen. Was war Ihr erster Gedanke angesichts dieser Nachricht?

Herbert Scheithauer: Diese Meldung ist mehr oder weniger inoffiziell in die Öffentlichkeit gelangt. Ich habe gehört, dass die Eltern nicht über diesen Vorfall reden wollen. Mein erster Gedanke war: größtes Mitgefühl mit den Eltern – egal warum dieses Kind zu Tode gekommen ist. Das ist ganz schrecklich, auch für andere Beteiligte im Umfeld.

Was für eine Reaktion würden Sie sich wünschen?

Man muss genau schauen, was wirklich die Hintergründe waren. Die erste Frage ist für mich aber die: Muss diese Information überhaupt an die Öffentlichkeit? Wir haben hier ein minderjähriges Kind …

Wer hat die Nachricht in die Welt gesetzt?

Ich weiß es nicht. Mir wurde mitgeteilt, an der Schule beteiligte Dritte hätten diese Meldung in irgendeinem Forum verbreitet. Momentan steht noch gar nicht fest, wie das Mädchen zu Tode gekommen ist. Ob es wirklich ein Suizid war, ob wirklich Mobbing der Hintergrund war. Ob nicht vielleicht andere Aspekte eine Rolle gespielt haben. Wir sollten in Ruhe abwarten, was die nächsten Tage bringen. Und man sollte respektieren, dass hier Eltern ein Kind verloren haben, und mit Informationen in der Öffentlichkeit sehr sparsam umgehen.

Wird in den Berliner Schulen genug gegen Mobbing getan?

Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Es gibt Schulen, die sind vorbildlich aufgestellt. Sie haben in ihrem Schulprogramm ein wissenschaftlich evaluiertes Anti-Mobbing-Programm. Sie haben Ansprechpartner und wissen, was im Fall eines Mobbings zu tun ist. Aber es gibt auch Schulen, die haben Nachholbedarf.

Wie viele Kinder und Jugendliche ungefähr sind von Mobbing betroffen?

Herbert Scheithauer

Der an der FU Berlin tätige Entwicklungspsychologe hat viele Präventionsmaßnahmen gegen Mobbing mitentwickelt. Darunter "Fairplayer" (www.fairplayer.de). Hilfe bekommt man auch bei der Mobbing-Beratung Berlin-Brandenburg: info@mb-berlinbrandenburg.

Zehn bis zwölf Prozent der Schüler geben an, regelmäßig Täter oder Opfer von Mobbing zu sein. Das sind ältere Zahlen einer Studie, die wir in Norddeutschland durchgeführt haben. Inzwischen kann man davon ausgehen, dass die Zahlen höher liegen, weil neue Formen wie Cybermobbing vermehrt im Gespräch sind. Das sind Zahlen, wo Schüler berichten, mindestens einmal die Woche Opfer von Mobbing zu sein.

Was wäre eine optimale Reaktion bei Mobbing? Das betrifft ja nicht nur die Schulen.

Wir sind seit vielen Jahren mit unserem Fortbildungsprogramm „Fairplayer“ an den Berliner Schulen aktiv. Mein Eindruck ist, dass vielfach noch gar nicht richtig klar ist, was Mobbing ist und was nicht.

Haben Sie ein Beispiel?

Viele Eltern argumentieren ja, mein Kind wird gemobbt, wenn es mal schlechte Noten bekommt. Auf der anderen Seite werden gewisse Dinge gar nicht wahrgenommen, weil sich von Mobbing betroffene Kinder schämen und den Eltern nichts erzählen. Elternteile und Lehrkräfte müssen lernen, die Anzeichen zu erkennen. Das ist aber gar nicht so einfach.

Wo liegt das Problem?

Bestimmte Formen von Gewalt werden in unserer Gesellschaft schlichtweg nicht ernst genommen. Manche Menschen meinen, Mobbing gehört dazu, weil das Kind ja lernen muss, sich durchzusetzen. Natürlich muss man lernen, sich in bestimmten Situationen durchzusetzen, das hat aber nichts damit zu tun, dass man Opfer von Gewalt werden muss. Das heißt, man sollte nicht übertreiben und jedes Verhalten als Mobbing ansehen, auf der anderen Seite aber auch eine gewisse Sensibilität entwickeln, um die Anzeichen zu erkennen.

Und die Eltern – was würden Sie denen speziell empfehlen?

Wenn ein Kind sich öffnet und den Eltern berichtet, ist es wichtig, zu dem Kind zu stehen und ihm keine Vorwürfe zu machen, nach dem Motto: Was hast du da denn wieder gemacht? Ich würde empfehlen, als Erstes mit der Schule zu sprechen und nicht selbst mit den Eltern des anderen Kindes Kontakt aufzunehmen. An den Schulen sollte man wissen, was zu tun ist. Wichtig ist, sofort einzugreifen. Dass es in den Sekretariaten einen Ordner gibt für die Intervention bei einem Krisennotfall, reicht natürlich nicht aus. Das muss man üben.

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