Eine Riesenwelle tilgt den Fortschritt

ÜBERLEBENSKÄMPFE In der koreanischen Hafenstadt Busan ist das Internationale Filmfestival zu Ende gegangen. Besonders beliebt war ein Katastrophenfilm, der von einem Tsunami erzählt, „Haeundae“ von Yun Je-gyun

45 Kilo, erfährt die Heldin von „Our Fantastic 21st Century“, ist das Idealgewicht für Verkäuferinnen

VON ANKE LEWEKE

Je länger man in diesem Land verweilt, desto fremder wird es einem. Und natürlich ist es interessant, in den Zeiten der Globalisierung, da sich doch angeblich alles angleicht, festzustellen, dass die Annäherung an eine Kultur im Erkennen ihrer fundamentalen Andersartigkeit bestehen kann. Nehmen wir nur die Toiletten: Wo sonst in der Welt findet sich eine derart ausgefeilte Verbindung von Hightech und Klobesuch? Auf öffentlichen koreanischen Toiletten beginnt die Sitzung auf einer beheizten Brille mit dem Drücken der sogenannten discret bell, der Diskretionsglocke, die eventuell auftretende Geräusche vorausschauend überdeckt. Der Besuch endet mit Wasserstrahl und anschließendem Poföngang. Oder die Love Hotels mit ihrem pinkfarbenen Neonschildern und Las-Vegas-haften Märchenzinnen: Sie sind nicht nur Treffpunkt für die laut Statistik höchst ehebrecherischen koreanischen Männer. Hier kommen auch junge Paare zusammen, die den beengten, familiären Wohnverhältnissen entfliehen, um DVDs anzuschauen, Computerspiele zu spielen oder anderes zu tun. Als Europäerin kommt man auch nicht umhin, sich über Koreas seltsame Schwimmsitten zu wundern: Ob das Wetter brüllend heiß bleibt oder nicht – ab Ende August, dem Ende der Badesaison, sind die Strände des Landes leer. So auch die Bucht von Haeundae, wo das Filmfestival von Busan, die größte Filmschau Asiens, stattfindet. Vor sieben Jahren standen in diesem Vorort der Hafenstadt ein paar Fischerhäuschen und Marktbuden, mittlerweile ist die Promenade ein Spalier von hypermodernen Hotelhochhäusern.

Was hier im Sommer los ist, kann man in dem Blockbuster „Haeundae“ erleben, der in der Sektion „Korean Cinema Today“ lief. In den Ferien erstreckt sich in Haeundae ein koreanisches Rimini aus streng formierten Liegestuhl-Reihen, Eisverkäufern und ausgelassenen Urlaubern.

Yun Je-guyns Tsunami-Blockbuster greift auf die klassische Dramaturgie des Katastrophenfilms zurück, wobei die Einführung der Figuren einen wunderbar klischeehaften Querschnitt durch die koreanische Gesellschaft liefert. Man lernt Fischer und Fischerinnen kennen, die ihren letzten Pier gegen finanzstarke Bauherren verteidigen. Man begegnet den Schönen und Reichen, die sich ihr Stückchen von der Turbokapitalismus-Torte gesichert haben. Aber auch Verlierern, die sich als Blinde verkleiden und mit ihren Kindern betteln gehen, denen sie für einen angemessenen erbarmungswürdigen Look vorher mit einem Bindfaden die Zähne ziehen.

Ohnehin hat „Haeundae“ mit seinen dödeligen Baywatchern, seekranken Fischern und hysterischen Bikini-Schönheiten für einen Actionfilm einen wunderbar burlesken Tonfall, der, wenn die Katastrophe in Anmarsch ist, ins Schadenfrohe wechselt. Die Kamera hat sich auf der Spitze des digitalen Tsunami positioniert und erfreut sich an der Wucht der Wassermassen, die die Neubauten am Strand zusammenstürzen lassen. Man wird das Gefühl nicht los, dass dieser Film vor allem deshalb elf Millionen Koreaner ins Kino lockte, weil sich hier eine Riesenwelle über die Insignien des Fortschrittglaubens erhebt.

Erstaunlicherweise ist der zweite große Kassenerfolg Koreas ein Dokumentarfilm: „Old Partner“ von Lee Chung-ryoul, der von der Freundschaft zwischen einem alten Mann und seinem Ochsen erzählt. Jahrelang hat das Tier den Lastkarren seines Herrn gezogen und wird nun immer gebrechlicher. Es ist ein Film, der auf erholsame Weise quer zum Lebensrhythmus des Landes steht. Dennoch lässt sich diese eher ländliche Lebensform zwischen den Hochhausschluchten noch finden. Schaut man etwa vom 23. Stock des Hotels Seacloud herunter, in dem viele Festivalgäste untergebracht sind, blickt man auf kleine Höfe, in denen Fisch, Meeresalgen und Chilischoten getrocknet werden. In der kleinen Marktstraße wiederum verkaufen alte Frauen ihr sorgfältig geputztes Gemüse, hauchdünn geschnittenen Rettich und bereits geschälten Knoblauch.

Der harte Alltag solcher Frauen ist immer wieder Thema in den Dokumentarfilmen der „Wide Angle“-Sektion. Für eine US-amerikanische Militärstation in der Nähe zur nordkoreanischen Grenze sollen sie ihr wenig Land und Gut räumen. „Memories of Daechuri“ von Jung Il-gun hält den bewundernswerten körperlichen Mut der Bäuerinnen fest, ihren energischen Widerstand gegen die mit Knüppeln bewaffneten Polizeieinheiten.

Auch die koreanischen Spielfilme handeln von exzessiven Arbeits- und Überlebenskämpfen quer durch die Generationen. In „Moscow“ von Whang Cheol-mean treten entlassene Fabrikarbeiterinnen in den Hungerstreik, während sich in „Paju“ von Park Chan-ok die Bewohner eines Hauses nicht aus ihren Wohnungen vertreiben lassen, obwohl der Kran mit der Abrissbirne schon im Einsatz ist, die Risse in den Wänden immer größer werden.

Extremer Körpereinsatz wird auch von der Heldin aus Ryu Hung-kis „Our Fantastic 21st Century“ verlangt. Bei der Arbeitsvermittlung wird der jungen und eigentlich sehr schlanken Heldin empfohlen, sich Fett absaugen zu lassen. Die Begründung: 45 Kilo seien das Idealgewicht für Verkäuferinnen.

Sehr schmalen Verkäuferinnen begegnet die Festivalbesucherin in Busan jeden Tag auf dem Weg ins Kino. Um in den Vorführsaal zu gelangen, muss man sich in den siebten Stock des angeblich größten Kaufhauses der Welt begeben. Vorbei an jungen Frauen, die sich unterwürfig vor den vorbeiströmenden Menschen verbeugen, ob sie nun Kosmetik, Betten oder Gartenmöbel aus der Provence verkaufen, die gerade in Korea en vogue sind. Manchmal scheint es, als sei das ganze Land ein Dokumentarfilmthema.

■ Anke Leweke war als Mitglied des Auswahlkomitees des Internationalen Forums der Berlinale in Busan