Sozialwissenschaftler über „Neue Autorität“: „Wir brauchen das nicht“

„Neue Autorität“ soll Hamburgs Lehrernachwuchs fit machen. Der Sozialwissenschaftler Tilman Lutz findet die Rückbesinnung auf den Autoritätsbegriff falsch.

Gescheiterte Autorität: Lehrer Lämpel aus „Max und Moritz“ Foto: Wilhelm Busch

taz: Herr Lutz, Sie sind als Hochschullehrer mit der „Neuen Autorität“ befasst. Und Sie sagen: Das hat auch positive Aspekte.

Tilman Lutz: Ich würde eher sagen, es ist attraktiv. Denn das Konzept verspricht Handlungssicherheit für Päda­gogen oder Eltern, die sich als hilflos sehen.

Wie funktioniert das?

Das Konzept nimmt erst mal nur das Handeln der „Autoritätsperson“ in den Blick. Damit eröffnet sich – das finde ich positiv – Raum zur Selbstreflexion. Das zielt darauf, Eskalation zu vermeiden. Und das Konzept ist attraktiv, weil es sich vom alten Verständnis von Autorität abgrenzt und neue pädagogische Leitlinien wie Nähe, Achtung, Würde, Wiedergutmachung ins Zentrum stellt.

Tilman Lutz, 45, ist Vater von drei Kindern, Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Diakon, Sozialarbeiter und Kriminologe.

Aber Sie sehen auch Gefahren?

Ja, wobei ich zwischen Konzept und Praxis unterscheide. Im Konzept bleibt die Herstellung einer verloren geglaubten Autorität im Fokus. Die jungen Menschen werden nur sehr bedingt als Subjekte wahrgenommen, die eigene Rechte haben und mit denen in pädagogische Aushandlungsprozesse gegangen wird. Das Konzept spricht von „einseitigem Handeln“. Das verspricht Handlungssicherheit, aber damit wird vernachlässigt, was die Wissenschaft den „pädagogischen Bezug“ nennt. Dass jede Erziehungssituation immer beide gestalten: der junge Mensch und die Erziehenden.

Ein Beispiel?

Gut finde ich das Aufschieben von Konflikten. Dass in einer eskalierenden Situation der Erwachsene sagt: Wir klären das später. Aber dann wird das Konzept unterschiedlich interpretiert. Streng nach dem Konzept entscheidet der Erwachsene allein, wann, wo und mit welchem Inhalt der Konflikt wieder aufgegriffen wird. Der junge Mensch nicht. In der Umsetzung in Wohngruppen, das höre ich von Trägern, können auch die jungen Menschen mitbestimmen, wann und wie der Konflikt wieder bearbeitet wird. Sie können auch sagen: Ich kann jetzt noch nicht.

Entwickelt hat die „Neue Autorität“ Haim Omer, Professor für klinische Psychologie im israelischen Tel Aviv. Mit seinem Osnabrücker Kollegen Arist von Schlippe brachte er das Konzept vor 15 Jahren nach Deutschland.

Vermeiden will es Frustration bei Pädagogen. Dazu ersetzt es die traditionelle Vorstellung von Autorität durch eine neue Idee – unter Berufung auf den gewaltfreien Widerstand von Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Gehorsam und Kontrolle sollen professioneller Präsenz und deeskalativer Beziehungsarbeit weichen.

Erlernen können Fachkräfte aus Pädagogik, Sozialarbeit und Psychologie durch Fortbildungen die Grundlagen dieses Konzepts – oder sich gleich ausbilden lassen zum Coach für Neue Autorität, etwa durch das Netzwerk Neue Autorität Hamburg.

Die Neue Autorität wird in der Behördenpublikation „Hamburg macht Schule“ vorgestellt. Dort bestimmt eine Lehrerin, dass ein Junge in der Pause auf der Bank sitzen und ihrer Botschaft zuhören muss.

Da ist die Neue Autorität konsequent umgesetzt. Es geht nur um einseitiges Handeln. Da fehlt, dass auch der Schüler Teil der Situation ist. Seine Bedürfnisse und der subjektive Sinn seines Handelns sind ausgeblendet. Die Autorität definiert, wann, was getan wird. Damit wird der „pädagogische Bezug“ halbiert oder ignoriert.

Wird das Konzept in Schule und Jugendhilfe verschieden umgesetzt?

Es wird in beiden Bereichen unterschiedlich angewendet. Man kann es autoritärer oder partizipativer tun. Auch die Lehrerin ist nicht gezwungen, alles einseitig zu bestimmen. Sie könnte das mit dem Schüler aushandeln, versuchen zu verstehen, was die Gründe für sein Handeln sind. Aber das Konzept sieht das nicht vor. Das ist meine Kritik. Es geht zentral davon aus, dass die Autorität verloren ist und wieder etabliert werden muss.

In unserer Gesellschaft?

Ja. Da wird ein kulturpessimistisches Bild gemalt, nach dem Motto: Früher war alles besser. Diese Klage kennt man seit Sokrates. Das ist als Gegenwartsdiagnose nicht tragfähig und als zentrales Ziel hochproblematisch.

Eltern dürfen ja nicht mehr schlagen. Will man die Elternmacht zurück?

Es geht der Neuen Autorität, das muss man ihr zugutehalten, um eine andere Form von Elternmacht. Es heißt, es gehe darum, das Entweder-Oder von Disziplin und Partnerschaftlichkeit zu überwinden. Gleichzeitig wird aber die Hierarchie zwischen Erziehenden und Zöglingen, also die generationale Ordnung, einseitig ins Zentrum gestellt. Die soll wieder gelten. Also: Die Erwachsenen entscheiden, was richtig und falsch ist. Sie bewerten Verhalten als positiv oder negativ. Die Sinnsetzung durch Kinder und Jugendliche ist irrelevant und wird nicht erwähnt.

Erwachsene müssen Kinder in die Welt einführen.

Stimmt. Aber das muss partizipativ sein. Kinder müssen als Subjekte anerkannt werden und mit gestalten.

Was ist denn ein No-Go?

Die Idee, so eine hierarchische Form von Autorität wieder einführen zu müssen. Das andere No-Go ist, dass in dem Konzept auf gewaltfreien Widerstand Bezug genommen wird, auf Martin Luther King und Gandhi, die als strukturell Ohnmächtige gegen die Mächtigen gewaltlosen Widerstand leisteten. Das ist nicht übertragbar auf Erziehung in Familien – wenn, dann nur in sehr verstrickten Lagen, wo Gewalt zwischen jungen Menschen und Eltern herrscht. Aber auf keinen Fall auf Institutionen wie die Schule, wo es eine Machtasymmetrie gibt. Ohnmächtige Lehrer kann es in der Schule eigentlich nur situativ geben. Denn dort sind die jungen Menschen den Lehrern strukturell unterlegen.

Woran machen Sie das fest?

Schüler werden bewertet. Sie sind schulpflichtig. Die Macht steht klar auf Seite der Lehrer. Die können mal hilflos sein, aber sie sind nicht in der ohnmächtigen Rolle. Berufen sie sich da auf gewaltfreien Widerstand, wird Gewalt verbrämt. Ein Beispiel ist das „Sit-in“ im Kinderzimmer, das oft zitiert wird. Da behindern teilweise die Erwachsenen das Kind am Verlassen des Zimmers. Mir ist schleierhaft, wie man das nicht als Gewalt deuten will. Und auch eine Suspendierung von der Schule wird für ein Kind nicht erträglicher, nur weil Erwachsene es dabei begleiten.

Die Vertreter des Konzepts bestreiten, dass Kinder beschämt werden.

Doch. Das ist Konsequenz dieser Einseitigkeit. Die Erwachsenen können ihr Handeln als nicht beschämend oder gewaltfrei definieren. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Kinder es so wahrnehmen. Angesprochen wurde ja auch die Methode des Hinzuziehens von Unterstützern, die per Telefon oder SMS dem Kind sagen, dass sie ein Verhalten für inakzeptabel halten. Ich finde, das ist Mobbing.

Ist das denn Praxis?

Ich habe nur Einblick in die Praxisstellen, wo unsere Studierenden sind. Mit diesen gibt es dazu auch einen konstruktiven Austausch. Dort habe ich das nicht gehört. Die gehen eher partizipativ vor. Trotzdem bleibt der neue Bezug zur Autorität für mich hoch problematisch.

Warum braucht man das?

Wir brauchen das nicht. Wie ich sagte, es gibt positive Elemente, also das bedingungslose Annehmen: „Ich bin für dich da, ich lass dich auch nicht in Ruhe, ich bin da, auch wenn du das nicht möchtest.“ Das ist gerade in der Jugendhilfe eine sehr positive Haltung, die dem entgegenwirkt, dass Jugendliche wegen ihres Verhaltens schnell in andere Wohnformen abgeschoben werden. Es ist Teil der Neuen Autorität, das sie ihren Erfolg nicht daran misst, ob das Kind sein Verhalten schnell ändert, sondern inwiefern die Autoritätspersonen sich als selbstwirksam erleben. Nur könnte man das auch anders begründen: mit der Einbeziehung der Stimme der Kinder und unter Wahrung der Kinderrechte. Auch Kinder brauchen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.

Was wäre die Alternative?

Schwierige Frage. Ein Beispiel wäre Kurt Hekeles „Subjektorientierung“. Alternativen lassen sich nicht mit drei Worten umreißen, weil sie reflexiver sind, schwieriger schnell darzustellen. Trotzdem sind sie erfolgreicher. Sie ermöglichen umfassende Partizipation, nicht nur bei der Lösung eines Problems, das die Erwachsenen definieren, sondern auch bei der Problemdefinition. Dies trägt eher dazu bei, dass junge Menschen eigenständige Mitglieder der Gesellschaft werden.

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