„Ich habe alles erlebt“

TÜRKEI Transsexuelle Frauen werden umgebracht. Warum? Weil sie das Patriarchat infrage stellen

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

Ebru Kiranci, 1961 geboren, ist eine transexuelle Frau aus der Türkei. Das macht sie verletzlich, denn die Mordrate an transsexuellen Frauen in der Türkei ist hoch. Kürzlich war sie für Amnesty International in Berlin.

sonntaz: Frau Kiranci, Sie sind eine transexuelle Person. Mann? Frau? Dazwischen?

Ebru Kiranci: Ich bin Frau. In der Türkei haben wir die Begriffe Travestie und Transsexualität. Aber wir fragen nicht, wer ist operiert, wer nicht. Ich schau nicht auf das Geschlecht, mich interessiert, was die Leute denken.

Sind Sie operiert?

Ja.

Wie geht Ihre Familie mit Ihrer Transsexualität um?

Sie grenzt mich aus. Ich habe sie seit dreißig Jahren kaum gesehen. Sie haben mich weggejagt. Ich lebe in Istanbul und sie leben am Schwarzen Meer. Zuerst war ich sehr traurig, habe viel geweint, ich habe sie angerufen, aber sie haben nicht gesagt: Komm zurück, komm zu uns.

Wussten Sie damals schon, dass Sie nicht die einzige Transsexuelle auf der ganzen Welt sind?

Als ich nach Istanbul zog, habe ich gemerkt, dass es auch andere gibt. Man wusste damals nicht so viel über Transsexualität, und auch meine Familie hat das nicht verstanden. Zunächst einmal war ich schwul. Das wird als Krankheit angesehen.

Zuerst homosexuell, dann transsexuell?

Vom Aussehen war ich ein Schwuler, aber ich wollte immer eine Frau sein.

Wie wird man eine Frau?

Dass das möglich war, habe ich in den Medien verfolgen können. Vor der Militärdiktatur waren transsexuelle Sänger in der Türkei populär. Bülent Ersoy, Zeki Müren. Müren ist mit Highheels und Perücke auf die Bühne gegangen. Natürlich hat er nicht gesagt, ich bin homosexuell oder trans, aber nicht jeder war so mutig.

Wie groß ist die transsexuelle Community heute in der Türkei?

Das kann ich nicht sagen. Tausende. Aber wir zählen die Leute nicht. Sie zählen ja auch nicht, wie viele Heterosexuelle es in Berlin gibt.

Offenbar ist die Zahl so groß, dass mit Aggression mitten aus der Gesellschaft gegen die Transsexuellen reagiert wird.

Ich sehe nicht, dass die Aggressionen in erster Linie aus der Gesellschaft kommen. Ich sehe vielmehr, dass die Regierung die Gesellschaft beeinflusst, uns auszugrenzen. Etwa wenn die Familienministerin sagt, Homosexualität sei eine Krankheit.

Ist wirklich nichts besser geworden?

Natürlich kann man sagen, heute ist es besser als vor zwanzig Jahren. Damals demonstrierten wir nicht auf der Haupteinkaufsstraße in Istanbul, heute tun wir das. Mit großer Regenbogenfahne. Und mit der Parole: Mörderstaat, das wirst du büßen.

Warum meinen Sie, der Staat sei ein Mörder?

Es gab 49 Morde an transsexuellen Frauen in den letzten zwei Jahren. Die Art, wie das von oben in die Gesellschaft kommuniziert wird, befördert den Hass gegen uns. Sobald wir auf die Straße treten, begegnen wir feindlichen Blicken oder wir werden beschimpft. Natürlich ist es noch ein Weg von den Hassreden zu den Hasstaten und zu den Morden an uns. Aber eine Gesellschaft, in der sich Mörder, die Transsexuelle umgebracht haben, mit Sätzen wie: „Er hat mir Sex angeboten, er wollte mich zu einer Trans machen“ rechtfertigen können, ist in einem schlimmen Zustand. Zumal diese Aussagen vor Gericht erfolgreich benutzt werden, um das Strafmaß zu reduzieren.

49 Morde an Transsexuellen, meist transsexuellen Frauen, in den letzten zwei Jahren …

Die Dunkelziffer ist sehr viel höher. Letzten Monat wurden zwei meiner Trans-Freundinnen in Izmir umgebracht. Ihnen wurden die Kehlen durchgeschnitten. Und nachdem sie die Kehlen durchgeschnitten hatten, haben die Täter weiter, immer weiter mit den Messern auf die Frauen eingestochen. Was ist das für eine Wut?

Das heißt: Sie selbst sind auch dauernd gefährdet?

Als Transfrau ist man per se gefährdet.

Aber wird man deshalb gleich umgebracht?

Es ist doch so: Transfrauen haben kaum andere Arbeitsmöglichkeiten als die stark illegalisierte Sexarbeit. Für Transfrauen bedeutet der Ausschluss aus der Familie – der passiert ja oft, wenn wir noch jung sind –, dass wir danach kaum mehr Zugang zu Bildung haben. Die Männer in der Türkei machen Sex mit Transfrauen. Da haben sie keine Angst und keine Berührungsängste. Und dann bringen sie sie um.

Das erklärt aber nicht, warum sie morden.

Stellen Sie sich das doch mal so vor: Wenn Sie als geborener Mann die Männlichkeit ablehnen, das ist wie ein Schlag ins Gesicht dieser männerorientierten türkischen Gesellschaft.

Die Art, wie Sie leben, gilt als Kritik an den Gesellschafts- und Familienmodellen.

Nation, Religion, Militär – das ist so wichtig in der Türkei. Und männlich definiert. Dann kommen wir transsexuellen Frauen und sagen, wir lehnen das ab. Wir stellen doch die Fundamente dieses Staates damit infrage. Das ertragen viele nicht. Gesellschaft und Staat schauen nur zwischen die Beine. Aber wir schauen in die Köpfe.

Sind Transmänner weniger gefährdet, weil sie Männlichkeit bejahen?

Transmänner stehen nicht so im Fokus, obwohl sie auch diskriminiert werden.

Wurden Sie schon einmal angegriffen?

Ich bin mit dem Messer niedergestochen worden. Ich bin von Kunden entführt worden – ich habe ja auch Sexarbeit gemacht. Ich bin sehr schlimm von der Polizei geschlagen worden. Ich habe eigentlich alles erlebt.

Was tun Polizei und Justiz, um das Morden zu stoppen?

Nichts. Sie machen nur was, wenn wir protestieren und kämpfen. Das Leben als Trans ist nicht schön. Wir haben keine soziale Absicherung und keine Rechtssicherheit. Nur Sexarbeit machen können ist nicht schön – aber wir haben oft keine andere Wahl. Wenn sich Transleute zusammenschließen und in einer Wohnung Sex anbieten, werden diese Wohnungen vom Staat versiegelt. Einerseits können wir nur Sexarbeit machen, andererseits wird Sexarbeit kriminalisiert. Der Staat macht uns zur Zielscheibe, aber Straftaten gegen uns werden so gut wie nie verfolgt. Da wissen die Täter doch, dass ihnen nicht viel passieren kann.