heute in hamburg
: „Die Ökosteuer ist nebensächlich“

:

Sebastian Chwala, Politikwissenschaftler, lebt derzeit in Marburg und publiziert regelmäßig über aktuelle französische Themen.

Interview David Günther

taz: Herr Chwala, seit Oktober 2018 protestieren die „Gelbwesten“ in Frankreich. Warum?

Sebastian Chwala: Es ist ein Protest gegen den Staatspräsidenten Macron, der im wachsenden Maße als ungerecht und unsozial empfunden wird.

Was war der Anlass zu den Protesten?

Anfang Oktober gab es eine Onlinepetition, die gegen die Ökosteuer gerichtet war, welche die Benzinpreise erhöhen sollte. Im Zuge dieser Petition besetzten zehntausend Menschen landesweit Verkehrskreisel, um ein Zeichen gegen diese Steuer zu setzen.

Ist die Abschaffung der Ökosteuer die einzige Forderung?

Nein, jetzt gehen die Forderungen weit darüber hinaus. Die Menschen setzten sich für eine Erhöhung der Mindestlöhne, ein verbessertes Bildungssystem und auch für den stärkeren Ausbau der Basisbeteiligungen ein. Also mehr Möglichkeiten jenseits des Parlaments, bei Gesetzesentwürfen beispielsweise. Die Ökosteuer ist nebensächlich geworden.

Wer protestiert?

Allgemein kann man sagen, dass die sozialpolitische und auch die gesellschaftliche Linke sehr aktiv ist. Aber auch die Rechten, die sich für die französische Identität einsetzen, sind präsent.

Woher kommt die Unzufriedenheit in Frankreich?

Durch das autoritäre Verhalten und den massiven Angriff auf das Sozialsystem seitens Macrons. Frankreich hat bislang die höchsten Sozialausgaben in Europa, die jetzt angegriffen werden. Generell hat die Bevölkerung ein starkes Bewusstsein dafür, dass Sozialpolitik Teil des politischen Systems sein soll.

Infoveranstaltung, „Gilet Jaune – Soziale Proteste in Frankreich“, Vortrag über die Gelbwesten in Frankreich, 19.30 Uhr, Centro Sociale. Eintritt frei

Ist das Ganze vergleichbar mit der 68er-Revolution?

Nein, der kulturelle Aspekt fehlt. Das akademische Milieu verfolgt die Proteste eher am Rande. Es werden eher Vergleiche zur Pariser Kommune 1871 gezogen. Anders als 1968 spielen die Frage nach der nationalen Souveränität und die nach der EU eine Rolle.

Hat Macron überhaupt Chancen, das Ganze zu beruhigen?

Die Gelbwesten müssten in einer nationalen Konferenz mit der Regierung zusammenkommen. Das möchten sie aber nicht wegen der verschiedenen politischen Hintergründe. Sie haben Angst, ihr politisches Profil zu verlieren: Die Linken wollen die politische Linke und die Rechten die politische Rechte nicht gefährden.