berliner szenen
: Die mysteriöse Oma

Die Frau erinnert mich an meine Großmutter, als sie noch eine junge Oma mit blondierten Locken und Jeans, Zigarette in der Hand und Stricksachen auf dem Schoß war. Die Frau, die ihr ähnlich ist, trinkt Bier und sagt nichts. Ihre Augen funkeln. Sie kam zu uns und fragte, ob es bei uns frei wäre, wir sagten Ja und zeigten auf den leeren Stuhl, obwohl es im Jazzclub mehrere freie Tische gab.

Wir wollten uns spontan ein Konzert angucken, doch an diesem Abend spielt niemand und wir geben uns mit Apfelstrudel und Bier zufrieden. Wir reden nicht viel, denn wir sind von der Frau gehemmt, die uns hemmungslos beobachtet. Um das Schweigen zu brechen, biete ich ihr ein Stück Apfelstrudel an. Sie nimmt den Teller zu sich, probiert, nickt und schiebt ihn mir zurück. Fast erwähne ich meine Großmutter, doch ich traue mich nicht. Als meine Freundin und ich rauchend im Hof stehen, kommentieren wir die Situation nur mit den Augenbrauen, als hätten wir Angst, dass sie uns hören kann. Wieder am Platz trinken wir schnell unsere Gläser leer und gehen.

Um zwei Uhr nachts bekomme ich eine Nachricht. Ob ich mich auch pausenlos übergeben müsse, fragt die Mitbewohnerin meiner Freundin. Da wir das Gleiche gegessen und getrunken haben und es mir gut geht, überlege ich, was sonst an dem Tag passiert ist. Als wäre ich im Kino, sehe ich dann eine Szene vor mir: Während wir rauchen, nimmt die mysteriöse Frau eine kleine Flasche aus ihrer Handtasche – und gießt einen Tropfen in eins der Biergläser. Dann kehren wir zurück, sie muss ihre Aktion unterbrechen.

Als der Arzt am Morgen bei der Mitbewohnerin ein Magen-Darm-Virus diagnostiziert, fühle ich mich etwas kindisch. An meine Großmutter muss ich aber erneut denken: Sie liebte solche Geschichten. Luciana Ferrando