Neues Album der US-Band Deerhunter: Zehn Songs über das Verschwinden

Trotz Baudrillard und Endzeitstimmung: Mit „Why Hasn’t Everything Already Disappeared?“ liefert Deerhunter ihr bislang zugänglichstes Album.

Sänger Bradford Cox bei einem Konzert in Polen

Zwischen Zartheit und Furor: Deerhunter-Frontmann Bradford Cox bei einem Konzert in Polen Foto: Imago/UIG

Bradford Cox wird bald verschwinden – wie wir alle. „I’m gone, I’m gone“, singt er im Song „Element“ immer wahnsinniger, als könne er sich in Luft auflösen, wenn er die Worte nur oft genug wiederholt. Das Stück hat die erhabene Euphorie eines Chorals, aber für die Welt, die er in seinen Zeilen zeichnet, sieht es schlecht aus: Natur gibt es nur noch in giftigsten Farben, selbst der Wind ist beschmutzt und versaut vom Menschen.

In einer Zeit, in der man sich so ernsthaft wie lang nicht mehr fragt, wann die dummen, mächtigen Männer der Welt wohl den Atomkrieg anzetteln, haben Cox und seine Band Deerhunter zehn Songs über das Verschwinden eingespielt. Das Album „Why Hasn’t Everything Already Disappeared?“, produziert von der walisischen Songwriterin Cate Le Bon, handelt von der Auflösung von Kultur und Werten, der Zerstörung der Umwelt. Der Verfall bleibt Cox’ Thema: Auf dem vor knapp vier Jahren veröffentlichten Album „Fading Frontiers“ sang er über den Verlust von Zugehörigkeit.

Mit ihrer Ästhetik sind die fünf Musiker aus Atlanta, Georgia, auch im 18. Jahr ihres Bestehens noch immer, was viele Indiekollegen unbedingt so gerne wären: Außenseiter. Denn Deerhunter schlagen die Brücke zwischen den eher konservativ tickenden Rock-’n’-Roll-Nachlassverwaltern der Nullerjahre und Kunsthochschul-Weirdos wie Ariel Pink, der in seinen neunmalklugen, doppelbödigen Popsongs die Gespenster der Vergangenheit durch den Äther jagt.

Deerhunters Sound wurzelt zu gleichen Teilen in Shoegaze und Garagenrock, flüchtet sich aber immer dann ins Dissonante, Unscharfe und Seltsame, wenn man gerade die rechten Referenzen für ihren Klang gefunden hat. Was zu großen Teilen ein Verdienst ihres Sängers ist: Cox singt mit größter Zartheit und schreit in heißer Manie. Trägt Kleider auf der Bühne so selbstverständlich wie Cowboyhüte. Und muss sich überhaupt das Anderssein nicht anziehen wie ein schrilles Accessoire: Eine seltene Erbkrankheit, das Marfan-Syndrom, ist verantwortlich für seine außergewöhnlich schmale Gestalt.

Retrofuturismus und wilde blaue Wesen

Ihr neues Album nahmen Deerhunter übrigens in der texanischen Wüstenstadt Marfa auf, in der auch der bildende Künstler Donald Judd seine Zelte aufgeschlagen hat. Für Cox ist Marfa ein Ort, in dem das Gefühl der Auflösung zu Hause ist: Er glaube, die Wüste beherberge viele verschwundene Dinge, sagte er in Interviews. Die mächtige Frage im Albumtitel (wenn man so will, ein Update von Heideggers Dauerbrenner „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“) guckte sich Cox aber von einem anderen Philosophen ab: „Warum ist nicht schon alles verschwunden?“, wollte 2007 der französische Soziologe und Poststrukturalist Jean Baudrillard in seinem letzten Essay wissen, bevor er selbst von der Erde verschwand.

Am Beispiel des Übergangs von der analogen zur digitalen Fotografie erklärte Baudrillard, wie sich das Reale zunehmend ins Digitale verflüchtigt: „Wenn dank der Entfaltung einer grenzenlosen materiellen oder mentalen Technologie durch ein Übermaß an Realität alles verschwindet, wenn der Mensch in der Lage ist, bis ans Ende seiner Möglichkeiten zu gehen, dann betritt er eben dadurch eine Welt, aus der er gleichzeitig vertrieben wird“, schrieb er. Oder, anders formuliert: Indem der Mensch sein größtes Projekt – die Beherrschung des Universums – vorantreibt, arbeitet er auf sein eigenes Verschwinden hin. Wir basteln uns eine Welt, die uns nicht mehr braucht.

Deerhunter-Sound flüchtet ins Dissonante, wenn man die Referenzen gefunden hat

Zwar bleibt weder in Baudrillards Gegenwartsanalyse noch in Cox’ erratischen Songtexten viel Raum für Erbauung – aber natürlich denken Deerhunter viel zu ungern geradeaus, um dem Verschwinden ein alarmistisches Album zu widmen. Im Gegenteil: Mag die Abrissbirne auch über allen Gewissheiten schweben; der Klang dieses Albums würde auch dann noch von Menschlichkeit und analoger Wärme erzählen, wenn Cox eine halbe Stunde Waffentypen aufzählen würde.

Noch nie gab es bei Deerhunter so viel Kammermusik zu hören, so viele kleine Sounddokumente vergangener Zeiten: Das majestätische Klingeln eines Cembalos durchwirkt die Single „Death in Midsummer“, in „Element“ wogen Streicher. „Plains“ zitiert Afrobeat, während das Instrumentalstück „Greenpoint Gothic“ so elektrisierend und chromsilbern klingt, als reise man mit David Bowie zum von wilden blauen Wesen bevölkerten „Planète sauvage“. Im (retro-)futuristischen „Détournement“ ergreifen die Cyborgs schließlich selbst das Wort – ohne uns zu verraten, wie sich die Zukunft anhören wird.

Die Kunst des Verschwindens

Der Deerhunter-Sound hatte schon viele Inkarnationen: Auf dem 2010er-Album „Halcyon Digest“, in gewisser Weise das Hitalbum der Band, ließ sich Cox erst vom Pop infizieren und dann vom Teufel holen; das Folgewerk „Monomania“ war die übersteuerte, kaputte Entgegnung der Band auf die Nostalgieversprechen von Neo-Rock’n’Roll-Bands wie Black Rebel Motorcycle Club.

Deerhunter: „Why hasn't everything already disappeared?“ (4AD)

„Why Hasn’t Everything Already Disappeared“ knüpft nun zart an den lichtscheuen Psychedelic-Folk von Bands wie Grizzly Bear an. Der Sound ist feingliedrig, so dicht wie luftdurchlässig – und tatsächlich: So zugänglich wie kein zweites Album von Deerhunter. Im finalen Song „Nocturne“ sendet Cox der Welt schließlich bruchstückhafte Signale durch ein kaputtes Mikrofon. „Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie schon nicht mehr ist“: Mit diesen Worten endet Baudrillards letzter Essay, seine Abhandlung über die Kunst des Verschwindens. Deerhunters Album endet mit hellen Klavierakkorden.

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