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Der Unesco-Weltbildungsbericht lobt Deutschlands Sprachförderung bei Geflüchteten. Doch ein genauer Blick zeigt: Nicht jede*r kommt gut in Schule und Ausbildung an

Kein deutscher Schulalltag: In der Berliner Grundschule Wedding gibt es Arabisch­unterricht Foto: Karsten Thielker

Von Uta Schleiermacher

Mehr als die Hälfte der weltweit geflüchteten Menschen ist unter 18 Jahre alt. Der Zugang von Geflüchteten und Migrant*innen zu Bildung ist jedoch keine Selbstverständlichkeit. Auch nicht in den wohlhabenden Ländern der EU, auch nicht in Deutschland. Das zeigt der Unesco-Weltbildungsbericht für das Jahr 2019 „Brücken bauen statt Mauern“, der im November vorgestellt wurde. Deutschland hat laut dem Bericht gute Fortschritte gemacht, Kinder und Jugendliche mit Fluchtgeschichte in die hiesigen Bildungsangebote aufzunehmen. Ausdrücklich gelobt wird die BRD für die intensive Sprachförderung – eine Meldung, die das Pisa-traumatisierte Bildungsland mit Wohlwollen aufgenommen hat.

Gleichzeitig mahnen die Autor*innen mehr Chancengleichheit beim gemeinsamen Lernen an, denn Kinder und Jugendliche mit Migrations- oder Fluchtgeschichte sind weiterhin in der Bildung benachteiligt, auch in einkommensstarken Ländern der EU. „Separierende Maßnahmen in Ländern mit hohem Einkommen von Frankreich bis Österreich und Deutschland verstärken die Benachteiligung von Einwanderern und Flüchtlingen weiter“, sagt Manos Antoninis, Direktor des Weltbildungsberichts. In Deutschland sind demnach 30 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen unter 16 Jahren in Sonderprogrammen außerhalb von Regelschulklassen untergebracht und fast 85 Prozent der über 16-ährigen unbegleiteten Minderjährigen besuchen Sonderklassen. Die Zahl ist seit 2016 leicht rückläufig.

Wie lange die Jugendlichen in den Klassen bleiben, darüber gibt der Bericht keine Auskunft. Die jeweiligen Programme der Bundesländer reichen von mehreren Monaten bis zu zwei Jahren. „Es hat keinen Vorteil, Einwanderer oder Flüchtlinge unterschiedlich zu behandeln“, sagt Antoninis. Das gemeinsame Lernen aller müsse die nächste Aufgabe sein, der sich das Land stelle.

Doch die Tendenz ist teilweise gegenläufig. Beispielsweise in Bayern, wo Familien inzwischen bis zu sechs Monate und allein reisende Flüchtlinge bis zu 18 Monate in den zentralen Aufnahme-Einrichtungen des Landes bleiben müssen. Zuvor waren es maximal drei Monate. „Dort findet dann gar keine Beschulung in Regelschulen statt“, sagt Jana Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat. „Die Zahl der Kinder, die nicht hinreichend beschult werden, wird in Bayern damit immer größer.“ Auch für Nordrhein-Westfalen, wo Familien ebenfalls bis zu sechs Monate in den Landesaufnahme-Einrichtungen bleiben müssen, kritisiert der Flüchtlingsrat NRW, dass die Angebote dort in keiner Weise den ­Unterricht an Regelschulen ersetzten.

Kinder und Jugendliche, die bereits in den Kommunen leben, werden vielerorts in Vorbereitungsklassen unterrichtet. Doch für den Unterricht dort gibt es sehr unterschiedliche Vorgaben. Die Robert Bosch Expertenkommission zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik stellt heraus, dass es in der Praxis weitgehend den einzelnen Schulen überlassen ist, ob die Kinder neben der Sprachförderung bereits in einigen Fächern am Regelunterricht an der Schule teilnehmen. Auch der Übergang in Regelklassen ist nicht einheitlich geregelt. In Hessen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gehen die Schüler*innen mindestens ein Jahr in sogenannte Intensivklassen bzw. Vorbereitungsgruppen und nehmen daneben bereits in einigen Fächern – die oft nicht weiter spezifiziert sind – am Regelunterricht teil. In Niedersachsen sind die Kinder zunächst in Sprachlernklassen untergebracht mit dem Ziel, sie schon nach wenigen Monaten in die Regelklassen zu integrieren. In Rheinland-Pfalz bekommen sie 15 bis 20 Stunden Deutschunterricht pro Woche und daneben weitere Unterrichtsstunden in den Regelklassen.

Wie es auch anders gehen kann, zeigen die guten Erfahrungen der inklusiven Laborschule Bielefeld, die 30 Kinder mit Fluchterfahrung aufgenommen hat – etwa ein Kind in jede ihrer jahrgangsübergreifenden Lerngruppen. Es sei ein Vorteil, wenn alle Lehrer*innen die Kinder unterrichten würden und nicht ein*e Lehrer*in alles stemmen müsse, heißt es dort. Allerdings brauche es dafür ein Konzept für Inklusion, gegebenenfalls Weiterbildung und die Bereitschaft im Kollegium. Forderungen, die auch Bildungsforscher*innen stellen (siehe Interview).

Auch der Übergang in Regelklassen ist nicht einheitlich geregelt

„Das deutsch gestrickte Schul­system passt oft nicht zu Kindern und Jugendlichen, die viele Jahre auf der Flucht verbracht haben“, bilanziert Rola Saleh von der Selbstorganisation Jugendliche ohne Grenzen, die als Sozialarbeiterin in Chemnitz arbeitet. „Oft können 18-Jährige nicht weiter die Regelschule besuchen und müssen dann auf die Abendschule gehen. Für diese Jugendlichen fordern wir bundeseinheitliche Programme, damit sie die Chance bekommen, Abitur an einem Gymnasium nachzuholen.“ Bei den kleineren Kindern beobachte sie, dass diese oft als Förderschüler eingestuft würden, wenn sie in den Regelschulen nicht schnell genug weiterkommen.

Beim Übergang zwischen Schule und Ausbildung gibt es große regionale Unterschiede. Dass ein Jugendlicher aus Afghanistan mit Duldung die Erlaubnis für eine Ausbildung bekommt, ist etwa in Hamburg oder Berlin sehr viel wahrscheinlicher als in Bayern oder Nordrhein-Westfalen. „Grundsätzlich haben Bund und Länder gute Strukturen aufgebaut“, sagt der Migrationsforscher Philip Anderson, Mitglied des Wissenschaftsbeirats beim Projekt „Perspektive Beruf“ des Kultusministeriums Bayern. Dazu gehörten etwa in Bayern die Berufsintegrationsklassen, in denen junge Flüchtlinge auf die Anforderungen der Berufsschulen vorbereitet werden. Auch arbeiteten die Agentur für Arbeit, Ar­beitgeber*innen und Industrie- und Handelskammer inzwischen gut zusammen. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat inzwischen jeder vierte von den seit 2015 in Deutschland angekommenen Flüchtlingen einen Job, etwa jeder fünfte hat eine sozialversicherungspflichtige Anstellung.

Nur: In vielen Fällen stellen die Ausländerbehörden eine Beschäftigungserlaubnis aus. „Die Jugendlichen sprechen Deutsch, sind oft sozial gut eingegliedert und haben eine hohe Bildungsbereitschaft, und die Betriebe brauchen Azubis. Es ist gesellschaftspolitischer Humbug, nicht darauf zurückzugreifen“, sagt Anderson. Dies sei das Gegenteil dessen, was das Bundesgesetz der Ausbildungsduldung gewollt habe, nämlich Jugendlichen mit Fluchterfahrung eine Perspektive zu geben.