Das Salzwasserkrokodil

TOTEM-GESÄNGE Im Admiralspalast beschwört Gurrumul Natur und Mythen Australiens, ist aber weit entfernt vom Pathos skandinavischer Black-Metaller

Je höher ihre Position in den Charts ist, desto mehr genießen manche Bands und Solokünstler die Rückkehr zum intimen Konzerterlebnis im kuscheligen Rahmen. Das machten vor Kurzem bereits Mexikos führende Indie-Rocker Kenny y los Electricos bei der Eröffnung einer Kunstausstellung in der Berliner Botschaft ihres Landes deutlich. Ein ähnliches Schema lag dem Auftritt des Australiers Geoffrey Gurrumul Yunupingu zugrunde, der am Dienstag im Studio des Admiralspalastes auftrat.

Goldstatus in Down Under

Sein erstes Soloalbum, das der Aborigine Anfang 2008 veröffentliche, erlangte noch vor Jahresende Goldstatus in Down Under. Elton John nahm ihn mit auf große Arena-Tour. Seit diesem Frühjahr wiederholt sich Gurrumuls Erfolg auch in Europa. Und das auf eine Weise, die in der Hochzeit ironischer Dekonstruktivierung auch alteingesessene Freunde der Weltmusik überrascht.

Unbeweglich, aber in sich ruhend wie die Säule einer Kathedrale sitzt der von Geburt an Blinde mit seiner Akustikgitarre auf seinem Stuhl, flankiert von zwei Violinisten, einem weiteren Gitarristen sowie dem Mann am Kontrabass. Letzterer gibt zugleich den selbstironischen Conferencier. Erst gegen Ende des Konzerts wendet sich Gurrumul, der nur wenige Sätze auf Englisch beherrscht, direkt ans Publikum. In der Sprache seines Clans singt er von seinem Totemtier, dem Salzwasserkrokodil, dem er seinen zweiten Vornamen verdankt. Oder über die unendliche Reise der Katze, worin er seine Mutter verkörpert sieht.

Seine nahezu ungefilterte Beschreibung von Sturmwolken, die am Himmel seiner heimatlichen Insel im Nordosten Australiens aufziehen, mögen anfangs an das Pathos skandinavischer Black-Metaller erinnern, die ihre düstere Stimmung aus ihrer vertrauten Landschaft herleiten oder dieses vorgeben. Doch je tiefer die Zuhörer in die spirituelle Welt der indigenen Bevölkerung Australiens eintauchen, desto deutlicher wird die Bedeutung der Beschwörung von Tieren, Landschaften und Vorfahren, die nicht nur als Teile eines Ganzen gesehen, sondern durch ihre Nennung erst evident werden.

Bedrohte Traumpfade

Angesichts der fortschreitenden Zersiedelung des siebten Kontinents wächst die Bedrohung für diese spirituelle Landkarte, der Bruce Chatwin in seinem Roman „Traumpfade“ (The Songlines) einst ein Denkmal setzte.

Erst vor diesem Hintergrund ergeben die sehnsuchtsvollen, auf Bewahrung drängenden Momente in Gurrumuls Songs einen Sinn, der sich dem Publikum in übersetzten Textpassagen auf einer Video-Leinwand erschließt. Rasch wandert das Auge zurück zum ganz in Schwarz gekleideten Protagonisten, dessen Kommunikation mit der Welt sich zwar in einer an Gestik und Mimik sparsamen Bühnenperformance vollzieht, aber gerade dadurch die Aufmerksamkeit auf seine Stimme lenkt, die in tieferen Tonlagen besonders anrührt.

Ist das alles nun zu schön, um im ästhetischen Sinne wahr zu sein? Sicherlich tragen die schluchzenden Geigen an einigen Stellen zur Verkitschung dieses Weltmusik-Sounds bei, der trotz jazziger Anklänge und sparsamer Rückgriffe auf indigene Traditionals am ehesten im klassischen Singer-Songwriter-Lager zu verorten ist. Andererseits sind es vielleicht gerade diese eher unnötigen Beigaben, die Gurrumuls musikalisches Talent besonders hell strahlen lassen.

NILS MICHAELIS