Uli Hannemann
Liebling der Massen
: Einstein und Newton am U-Bahn-Steig

Am Fahrkartenautomaten auf dem U-Bahn-Steig spricht mich ein freundlicher Herr an. Er habe da einen Fehlkauf getätigt. Und zeigt mir den unabgestempelten Abschnitt einer Viererkarte. Für 2,50 Euro könne ich den haben, da hätte ich auf den Regeltarif AB je Fahrt 30 Cent gespart. Deal?

Blitzschnell rattert es in meinem Kopf. Tarife, Zahlenkolonnen, Multiplikations- und Vergleichsrechnungen. Ich bin ein lebender Computer. Und der – klingeling – spuckt nun aus: Eine Viererkarte kostet im Automaten 9 Euro. Wenn ich aber viermal 2,50 Euro rechne, bin ich schon bei 10 Euro.

Das ist kein gutes Geschäft für mich, und das sage ich ihm auch. Ich bin stolz auf dieses Herrschaftswissen.

Stimmt, sagt er und holt einen weiteren Abschnitt der Viererkarte hervor. Er würde mir deshalb zwei Karten für zusammen 5 Euro geben. Na? Wäre das was?

Es ist schwer zu sagen, wer von uns beiden der Gerissenere ist. Ich denke, wir spielen beide in einer derart hohen Liga, dass sie erst noch erfunden werden muss. Auf Normalsterbliche muss dieser Titanenkampf des arithmetischen Scharfsinns wirken, als ob Einstein und Newton einander mit Geistesblitzen bewürfen, nur noch viel extremer. Die Welt hält den Atem an.

Ich rechne erneut. Fieberhaft, fehlerlos. Klingeling: 5 Euro, verkünde ich nunmehr das Ergebnis, seien genau genommen nichts anderes als zweimal 2,50 Euro, nur anders ausgedrückt. Sodass sich dadurch für mich nichts verändert habe und ich lieber selbst eine Viererkarte aus dem Automaten zöge.

Das stimmt, lenkt er – später wird sich zeigen: zum Schein – ein. Er will mir damit das gute Gefühl geben, mich in dem geistigen Ringen durchgesetzt zu haben. Doch damit bereitet er nur den psychologischen Boden für eine derart schlaue Finte, dass selbst ich darauf hereinfalle. 4 Euro dann für beide Tickets, sagte er. Damit hätte er Verlust und ich Gewinn gemacht.

Hätte. Denn jetzt pokert er, doch die Statistik ist auf seiner Seite. Fast niemand hat 4 Euro klein – nach einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums sieht sich im Schnitt noch nicht einmal jeder fünfte Bundesbürger in der Lage, eine Forderung von 4 Euro passend zu begleichen.

Ja, okay, sage ich, 4 Euro für zwei nagelneue Fahrscheine, super, und beginne, in meiner Börse nach dem Geld zu kramen. Betont gleichgültig sieht er mir zu. Er braucht Nerven wie Stahlseile. Denn jene faulen Kunden, die die 4 Euro klein haben, treten ja nicht erkennbar auf. Andernfalls könnte er sie gezielt nicht ansprechen und auf diese Weise aussondern. Diese 20 Prozent sind nur der Schnitt auf lange Sicht.

Das ist wie beim Roulette: Selbst wenn die Kugel zum fünften Mal auf Rot fällt, bleibt die Chance auf Schwarz beim nächsten Spiel fifty-fifty. Weil also auch mehrere Leute hintereinander jeweils 4 Euro passend haben könnten, muss er stets ein paar Euro zurückhalten, um zur Not in finanzielle Vorleistung zu gehen, bis er endlich die verdiente Rendite abschöpfen kann. Erst ab drei Fahrten, auf die kein Käufer rausgeben kann, macht er Gewinn. Um die Effizienz zu erhöhen, koppelt er sein Lockangebot stets an die zwei Karten. Mit einer einzelnen würde es ohnehin nicht funktionieren, denn über ein 2-Euro-Stück verfügen dann doch wieder über 70 Prozent der Bundesbürger permanent.

Ich finde nur einen Fünfer. Er kann leider nicht rausgeben, und ich gebe ihm den Schein, denn durch die Interaktion ist er mir mittlerweile fast so etwas wie ein Freund geworden in seiner nicht uncharmant ausgeführten Rolle zwischen Schnorrer und Betrüger.