Joachim Schulz
: Quasimodo ante portas

Wir hatten ihn gewarnt. „Geh nicht hin! Klassentreffen sind Verderben bringende Veranstaltungen, die schon viele in den Abgrund gestoßen haben“, sagte Luis, als Raimund ins Café Gum kam und uns die Einladung zeigte. „Wer hätte jemals Vergnügen daran gehabt, von der Vergangenheit eingeholt zu werden?“, fuhr Luis fort: „Und was hast du bei einem Klassentreffen außer viel Bier und schlechter Musik zu erwarten als eine volle Dröhnung Vergangenheit?“

„Außerdem: Was meinst du, wie die Leute heute aussehen, die du als junge Hüpfer in Erinnerung hast?“, ergänzte Theo: „Ich sage nur: kahle Schädel, Hängebäuche, aufgedunsene Säufernasen. Ein Klassentreffen ist ein Horrortrip, bei dem du lauter Untote triffst, die dich an deine eigene Hinfälligkeit erinnern. Fortan wirst du in jeder dunklen Ecke den Sensenmann kichern hören!“

„Tja“, seufzte Raimund, „wahrscheinlich habt ihr recht.“ Aber ich wusste, er würde trotzdem fahren. Zu oft hatte er mir von Birgit erzählt, die drei Jahre neben ihm in der letzten Reihe gesessen hatte: von ihren goldenen Locken, ihrem strahlenden Lachen und den Augen, die so blau und tief waren wie ein Gebirgssee. Er hatte sich in einer verregneten Nacht nach dem Abitur auf unschöne Weise von ihr getrennt, weil er dachte, dass er alles hinter sich lassen müsste, bevor er zum Studieren nach Göttingen ging. Jetzt aber meinte er, dass er damals die große Liebe seines Lebens hatte im Regen stehen gelassen – und dieses Klassentreffen war die unverhoffte Chance, sie wiederzusehen.

Seit fast fünfzehn Jahren war Raimund nicht mehr in seiner Heimatstadt gewesen, und er hoffte, er würde dort nichts mehr wiedererkennen. Kaum aber war er aus dem Zug gestiegen, kaum hatte er den Bahnhofsvorplatz in Richtung der „Pension Florida“ überquert, roch er die alten Gerüche, spürte er den notorischen Trübsinn, der in den Straßen festhing. Er hörte etwas von hinten schwer atmend näherkommen und wusste, dass das die Vergangenheit war.

Er schlief schlecht, träumte von Verfolgungsjagden, wälzte sich hin und her, und als er morgens aufwachte, war sein Nacken so schief, als ob er drei Tage an einem Galgen gehangen hätte. „Mist!“, fluchte er, denn mit einem albern nach vorne hängenden Kopf wollte er Birgit nicht unter die Augen treten. Er rief sich ein Taxi, hörte draußen im dunklen Flur jemanden kichern und ließ sich zum Einrenken in die Klinik fahren.

Es dauerte drei Stunden, bis endlich eine Ärztin kam, und er erkannte sie nicht gleich: Das Blond war nicht mehr echt, und die Augen waren stumpf wie eine eingetrocknete Pfütze. Birgit hingegen wusste sofort, wen sie vor sich hatte, und weil eine Spezialistin für das Ein- auch das Ausrenken perfekt beherrscht, sah Raimund wie eine Eins-a-Kopie von Anthony Quinns Quasimodo aus, als er zwei Tage später eigenartig krumm im Café Gum auftauchte, um uns die hanebüchene Geschichte zu erzählen.