Kommentar Flüchtlingspolitik in Europa: Fraglos schreiten wir voran

Wir Europäer sind stolz auf unsere Zivilisation. Gleichzeitig tun wir so, als ginge uns das Elend der Welt nichts an und schauen weg.

Pflanzen, eng ummauert und mit Stacheldraht gesichert

Das blühende Leben steht nicht allen zu Foto: Katja Gendikova

Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass sich buchstäblich vor unserer Haustür ein menschliches Kollektivdrama abspielt, vor unseren Augen eine politische und gesellschaftliche Entzivilisierungsdynamik ihren irren Lauf nimmt – und fast niemanden kümmert es?

Die Festung Europa wird mit Gewalt gesichert, und wer ihre Burggräben und Außenmauern überwindet, ist seines Lebens noch lange nicht sicher. Zehntausende Menschen mussten in den vergangenen Jahrzehnten sterben, weil sie auf europäischem Boden leben wollten.

Sie mussten ihr Leben lassen, nur weil sie am hiesigen, selbst gewaltsam erwirtschafteten Wohlstand teilhaben wollten. Weil sie teilhaben wollten an unseren Lebensverhältnissen, an dem für uns ganz normalen Leben – von dem wir meinen, dass es uns zusteht und im Zweifel ausschließlich uns.

Sie ließen ihr Leben, weil sie ihr Glück suchten, getrieben von Hoffnung oder Verzweiflung, von Mut oder Angst. Wir in Europa sind die Sieger*innen in der Glückslotterie des Lebens: geboren dort, wo es sich im Weltmaßstab gut leben lässt. Aber Glück ist eine knappe Ressource, für alle reicht es nicht. Das ist die irrationale Rationalität, die verrückte Logik der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung: Die immensen Werte, die sie produziert, dürfen niemals allen zugutekommen.

Und so sterben dann die Leute

Sie müssen ungleich zugeteilt werden – das Glück der einen ist das Unglück der anderen. Aus dieser Logik der Verknappung im Überfluss entspringen die Notwendigkeiten sozialer Schließung: Die Unglücklichen müssen leider draußen bleiben; und wer nicht hören will, muss fühlen.

Und so sterben dann die Leute, die nicht mehr daheim bleiben konnten oder mochten – auf Schlauchbooten und an Grenzzäunen, in Kühllastern und Asylheimen. Oder einfach auch auf offener Straße, mitten in jenem Leben, das wir für uns allein reklamieren.

„Todesursache Flucht“: In einem zum 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erschienenen Buch dokumentieren die Historikerin Kristina Milz und die Autorin Anja Tuckermann die menschengemachten „Schicksale“ von 35.597 Opfern des europäischen Grenz- und Migrations-, Aufnahme- und Abweisungsregimes. Ein Vierteljahrhundert institutionalisierter Menschenverachtung, auf Hunderten von Seiten aufgelistet – eine kaum erträgliche Lektüre.

Ein beliebiger Blick in dieses Buch spricht Bände. Zum Beispiel, rein willkürlich aufgeschlagen, Seite 240, wo 66 im Herbst des Jahres 2012 Verstorbene aufgeführt werden. Ertrunkene Afrikaner*innen von den Komoren, deren Boot vor der Küste des französischen Überseedépartements Mayotte kenterte. Eine 39-jährige papierlose Nepalesin, die bei ihrem Versuch der Flucht vor einer zypriotischen Polizeirazzia aus dem fünften Stock eines Gebäudes fiel.

Menschen mussten sterben, weil sie leben wollten

Ein 20-jähriger Kurde aus dem Irak, der sich nach endgültiger Ablehnung seines Asylantrags in einem norwegischen Zentrum für Geflüchtete das Leben nahm. Ein 30-jähriger Mann aus Eritrea, gestorben bei einem Verkehrsunfall nahe dem griechischen Ale­xan­dro­pou­lis, als sich das Auto eines Schleppers bei der Verfolgung durch die Polizei überschlug.

Ein 26-jähriger Mosambikaner, der sich als blinder Passagier auf einen Flug von Angola nach Großbritannien geschmuggelt hatte und kurz vor der Landung in Heathrow starb, als er aus dem sich öffnenden Fahrgestell auf eine Straße des Londoner Vororts Mortlake stürzte.

Quer durch Europa, um ganz Europa herum dasselbe Bild: Menschen, die sterben mussten, weil sie leben wollten

Unglaublich? In der Tat. Quer durch Europa, um ganz Europa herum dasselbe Bild: Menschen, die sterben mussten, weil sie leben wollten. Wenn Europa nach seiner Identität sucht, dann bemüht es mit Vorliebe seine „europäischen Werte“, dann konstruiert es sich als historisch wie global einzigartige „Wertegemeinschaft“, als Hort der Aufklärung und der Bürgerrechte, als Hüterin des Friedens und der Demokratie.

Liest man die – sehr unvollständige – Liste der Opfer der europäischen Mauer, dann kommen arge Zweifel auf an diesem hehren Selbstbild. Dann spricht alles dafür, dass die Einheit Europas in der Schizophrenie seiner Institutionen liegt – und seiner Bürger*innen: in der säuberlichen politischen Trennung zwischen den Rechten der einen und der Entrechtung der anderen; in der zur Selbstverständlichkeit gewordenen gesellschaftlichen Unterscheidung zwischen den eigenen, legitimen Ansprüchen und der illegitimen Anspruchshaltung „Fremder“.

Die Schockstarre scheint anzuhalten

Die Studien zur Entzivilisierung des gesellschaftlichen Lebens im Nationalsozialismus füllen ganze Bibliotheken. Noch Generationen später fragt man sich, trotz oder auch wegen all der geschichtswissenschaftlichen Evidenz: Wie war das möglich? Und bleibt ratlos und schockiert zurück.

Die Schockstarre scheint anzuhalten und sich fortzuschreiben, auch noch im Angesicht des mittlerweile wieder ganz normalen Wahnsinns von Alltagsrassismus und Protofaschismus: Innenminister freuen sich über Abschiebungen zum Geburtstag, Verfassungsschützer nehmen Verfassungsfeinde in Schutz. Ja selbst unter Linken ist das hausherrliche Gerede vom „Gastrecht“ nicht tabu, und man meint doch auch mal sagen zu ­müssen, dass „wir“ nicht „alle“ aufnehmen können.

Also lassen wir es doch lieber ganz bleiben. Oder greifen halt zum Hebel der „intelligenten Steuerung“ von Zuwanderung. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil – wohlgemerkt ein Repräsentant jener Sozialdemokratie, die zugleich mal wieder Thilo Sarrazin wegen völkischer Umtriebe auszuschließen versucht – hat die erbarmungslose Rationalität deutscher Migrationspolitik soeben auf den Punkt gebracht: „Im Kern geht es darum, dass wir nicht die Falschen abschieben.“

Es lebe die Logik der Nützlichkeit: Die wenigen Guten ins Arbeitsmarkttöpfchen, auf dass die nationale Wachstums- und Wohlstandsmaschinerie weiter wie geschmiert laufen möge

Es lebe die Logik der Nützlichkeit: Die wenigen Guten ins Arbeitsmarkttöpfchen, auf dass die nationale Wachstums- und Wohlstandsmaschinerie weiter wie geschmiert laufen möge. Und die Masse der Schlechten eben ins Kröpfchen des Mittelmeers, der erzwungenen Illegalität oder der – ja, das darf man heute wieder sagen – „konzentrierten“ Unterbringung in Zentren für Ankunft, Entscheidung und Rückführung. Also vor allem für Rückführung natürlich.

Bitte nicht das Leben vermiesen

Damit wir unsere Ruhe haben. Denn es ist ja so: Wir wollen nicht gestört werden. Wir wollen schlicht so weitermachen wie bisher. Wir wollen, dass in akademischen Diskussionen mit elaboriertem Code über das „gute Leben“ räsoniert wird, während in krawalligen Talkshowdebatten Woche für Woche die „Grenzen der Belastung“ tiefer gelegt werden.

Derweil wir Neoliberalismusgeplagten über den stetig steigenden Arbeitsstress klagen und ganz widerständig, unter kreativer Nutzung der Brückentage, den wohlverdienten Urlaub planen. Gern in einem jener Länder, in denen diejenigen zurückgehalten werden, die uns daheim, nach unserer Rückkehr in die Alltagsmühle, bitte schön nicht das Leben vermiesen sollen.

So geht kollektives Ausblenden heute – im Grunde genommen nicht anders als damals. Man weiß eigentlich, was vor sich geht. In jedem Fall kann man das alles wissen. Aber wir wollen es nicht wissen. Mehr noch, und viel praktischer auch: Wir müssen gar nicht wissen. Niemand zwingt uns dazu, uns den Realitäten unserer Lebensweise zu stellen. Nichts zwingt uns dazu, die uneingestandenen Voraussetzungen und ausgeblendeten Konsequenzen unserer Stellung in der globalen Ordnung sozialer Ungleichheit zur Kenntnis zu nehmen. Oder gar zu Herzen.

Dazu jedenfalls kann uns auch niemand zwingen – das müsste schon von Herzen kommen. Was diese Gesellschaft hingegen derzeit kollektivindividuell betreibt, ist die große Gleichgültigkeit. Unsere Gesellschaft ist indifferent gegenüber all denen, die die Zeche zahlen müssen für unsere einzigartige Wohlstandsposition. Sie schert sich nicht um jene, die die Kosten und Lasten unserer vermeintlich „hochproduktiven“, in Wahrheit aber höchst destruktiven Ökonomie zu tragen haben.

Fraglos schreiten wir voran

Ja, sie ist nicht nur indifferent, sondern geradezu indolent – schmerzunempfindlich. Wohlgemerkt: Sie ist arg empfindsam für den in die Zukunft projizierten Phantomschmerz, vielleicht doch mal Lebenschancen mit den weniger Glücklichen dieser Welt teilen zu müssen, irgendwann auch einmal ein größeres Stück vom Weltwohlstandskuchen abgeben zu müssen. Über die Schmerzen der anderen hingegen kann sie ohne viel Aufhebens hinwegsehen und ohne Weiteres hinweggehen. Fraglos schreiten wir voran.

Gleichgültigkeit ist eine soziale Beziehung – eine Beziehung der Beziehungslosigkeit

Gleichgültigkeit ist aber keine psychische Deformation. Gleichgültigkeit ist eine soziale Beziehung – eine Beziehung der Beziehungslosigkeit. Wir handeln so, als ob das alles nichts mit uns zu tun hätte: Die Toten im Mittelmeer und die Hetzjagden auf Andersaussehende, die Rückhalte­lager in Nordafrika, die Arbeitsbedingungen in Südostasien, die Umweltzerstörungen in Lateinamerika. Das Elend der Welt, die Verdammten dieser Erde – not our business. So wir nicht sogar noch Geschäfte damit machen.

Klar, wir können weiterhin das Sterben auf dem Weg nach Europa und den tödlichen Rassismus um uns herum ignorieren. Wir können so weitermachen, als ob nichts wäre. Gleichgültigkeit muss man sich leisten können – und wir haben’s ja! Und so zeigen wir bestenfalls auf die üblichen Verantwortlichen, auf EU und Frontex, Kurz und Orbán, Salvini und Seehofer – alles üble Gesellen, die da oben und da draußen. Aber warum denn wohl können sie alle ihr Spiel immer weiter treiben? Wie hat es auch in diesem Jahr wohl wieder so reibungslos funktioniert? Wann spielen wir nicht mehr mit?

Frage ich mich. Fragen uns 35.597 Tote. Und ungezählte weitere, nicht dokumentierte Opfer der europäischen „Zivilisation“.

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