Vom Neuen ins Alte mit dem ICE

Bis man schließlich selbst vom Kinder- zum Elterndasein upgradet und die Omas und Opas an Weihnachten dann in den Zug nach Berlin steigen müssen, gibt es die jährliche weihnachtliche Zugfahrt nach Hause zu den Eltern

Voll, voll, voll, mehr ist nicht zu sagen Foto: picture alliance

Von Marlene Militz

Natürlich gibt es zahlreiche Weihnachtstraditionen: Die Gans, die Klöße, der Tannenbaum, der Tannenbaumschmuck, der Stollen, die Plätzchen oder die Pyramide – sie variieren von Mensch zu Mensch und von Familie zu Familie, aber jeder hat und bewahrt sie in irgendeiner Form.

Fester Bestandteil meiner Weihnachtstradition ist seit einigen Jahren die Zugfahrt nach Hause. Sie gehört genau genommen zu meinen Vorweihnachtstraditionen und steht somit auf einer Stufe mit dem obligatorischen Besuch eines Weihnachtsmarktes. Ein oder zwei Tage vor Heiligabend schleppe ich also alle Jahre wieder entsetzlich viel Gepäck (einen Koffer, einen Rucksack, eine Handtasche, eine Aldi- und eine KaDeWe-Tüte) zum Hauptbahnhof, steige in den entsetzlich vollen ICE und verspüre Weihnachtsstimmung. Früher habe ich das Gepäck noch zum Zentralen Omnibusbahnhof geschleppt und mich in einen Bus gesetzt, aber da sich meine finanzielle Lage mittlerweile etwas gebessert hat, leiste ich mir so kurz vorm Fest eine andächtige Zugfahrt. Durch die Verbesserung meiner Finanzen hat sich außerdem mein Gepäck verdoppelt, und zu dem Aldi-Beutel gesellte sich irgendwann eine KaDeWe-Tüte als Transportmittel immer zahlreicher werdender Geschenke hinzu.

Am Freitagabend stehe ich also auf dem zugigen Gleis 2 und versuche herauszufinden, wo sich nun der Waggon 32 mit meinem reservierten Platz bei geänderter Wagenreihung wohl befinden wird. In den letzten Jahren habe ich nämlich gelernt, dass es sich sonst zwar nie, kurz vor Weihnachten aber immer lohnt, einen Sitzplatz für 4,50 € zu reservieren. Als der Zug einfährt und ich mit allen Taschen und Tüten den Zug von vorne bis hinten ablaufe und trotzdem nur Waggon 20 bis 28 finden kann, schwant mir schon Böses. Die Schaffnerin bestätigt mein Schwanen. Der zweite Zugteil inklusive Waggon 32 und meinem reservierten Fensterplatz musste heute Morgen in der Werkstatt bleiben. Der Arme, und das so kurz vor Weihnachten. Ich verbringe also die Zugfahrt im Gang, so wie viele andere traditionsbewusste Nach-Hause-Reisende und wünsche mir, doch den Bus genommen zu haben.

Aber auch diese Zugfahrt endet irgendwann, und so stehe ich mitsamt Gepäck (beinah hätte ich eine der Tüten im Zug liegen lassen) im vertrauten, festlich geschmückten Bahnhof. Es wurden Glühweinhütten zwischen Gleisen und Ausgang aufgebaut, an denen einige Leute mit roten Gesichtern stehen und in heimischer Mundart plaudern. Es ist sofort heimelig. Tatsächlich stellt sich nie so schnell ein wohliges Endlich-einmal-wieder-zu-Hause-Gefühl ein wie zu der Zeit des Jahres, in der Glühweinstände im Bahnhof stehen. Es bedarf keiner Eingewöhnung, höchstens eines Glühweins.

Draußen regnet es, und nachdem ich mein Gepäck in dem Zuhause in dieser Stadt abgeladen habe, wird sich der nächsten Tradition gewidmet: dem Besuch des Weihnachtsmarktes. Auch hier gibt es den traditionellen Teil, wo man warme Socken und kandierte Mandeln kaufen kann und den rummelartigen Jahrmarktsteil mit blinkendem Riesenrad und Eislaufbahn. Und doch fühlt es sich hier alles familiärer an. So, dass ich Lust bekomme, jedem, der mir entgegenkommt, in alter, freundschaftlicher Bekanntschaft auf die Schulter zu klopfen und einen Glühwein auszugeben, denn hier kennt man sich doch.

Dieses Gefühl hält nicht lange an. Denn wie jedes Jahr muss ich feststellen, dass es mit Ruhe und Besinnlichkeit wohl wieder nichts wird, zumindest wenn ich wenigstens ein paar alte Freunde wiedersehen möchte, ohne meine Familie gänzlich zu vernachlässigen. Aber auch das gehört mittlerweile dazu. Und so nehme ich alles mit: vom familiären Weihnachtsmarktbesuch bis zu den Kantaten 1–3 des Weihnachtsoratoriums, vom nächtlichen Treffen der Freunde in den alten Bars bis zum panischen Vorbereiten der Gans mit Kater, die schon frühzeitig in den Ofen musste, weil sie auf dem Balkon vor sich hin taute.

Und all das beginnt mit einer Zugfahrt. Die alten Traditionen, die an Familie und Freunde in meiner Heimatstadt gebunden sind, und all die jüngeren Traditionen, die in der neuen Berliner Heimat heranwachsen, werden jedes Jahr durch diese Zugfahrt unweigerlich miteinander verbunden. Und so geht es wohl vielen, die alljährlich zu Weihnachten vom Neuen ins Alte zurückfahren. Man wird wohl noch einige Jahre hin- und herfahren müssen, bis man schließlich selbst vom Kinder- zum Elterndasein upgradet und die Omas und Opas an Weihnachten dann in den Zug nach Berlin steigen müssen.