Wenn der Arzt am anderen Ende der Leitung sitzt

Viele ÄrztInnen auf dem Land gehen bald in Ruhestand. NachfolgerInnen sind Mangelware

Von Esther Geißlinger

Wenn der Sturm um Hallig Hooge tobt, gelangt kein Schiff, kein Hubschrauber auf das Eiland. Rund 100 Menschen leben dort, pro Jahr landen 90.000 TagesbesucherInnen am Fähranleger. Was, wenn eineR medizinische Hilfe braucht?

Der Blick auf die Inseln und Halligen zeigt besonders deutlich, wie schwierig ärztliche Versorgung in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein ist. Aktuell sind die meisten der Hausarzt-Sitze zwischen Flensburg und Elmshorn zwar besetzt, aber viele der PraxisbetreiberInnen werden in den nächsten Jahren in Rente gehen. Landesweit werden Modelle ausprobiert, um die Lücke zu schließen.

Es ist eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge, Menschen den Zugang zur medizinischen Versorgung zu gewährleisten. Aber die Politik hat diese Aufgabe an die ärztliche Selbstverwaltung, die Kassenärztliche Vereinigung, abgegeben. In Schleswig-Holstein vermeldet diese auf ihrer Homepage aktuell nur wenige freie Kassensitze für Allgemeinmedizin. Stark gesucht werden dagegen PsychotherapeutInnen.

Doch in ihrem jüngsten Bericht zur Versorgungslage, der 2014 erschien, zeichnen sich die Probleme ab: Das Durchschnittsalter der rund 1.900 HausärztInnen in Schleswig-Holstein betrug damals knapp 55 Jahre. Knapp 20 Prozent hatten ihren 60. Geburtstag hinter sich, weitere 13 Prozent waren über 65 Jahre alt.

Dabei gibt es regional große Unterschiede: In den ländlichen Kreisen wie Nordfriesland, Dithmarschen oder Schleswig-Flensburg ist der Anteil der über 60-Jährigen besonders hoch. „Ja, es wird in der Fläche problematisch“, sagt Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, auf taz-Anfrage. An den Ausbildungszahlen liege das nicht, eher an den Berufswünschen der Jung-ÄrztInnen, die es nicht in Kleinstädte und Dörfer zieht.

Die Politik dreht an Stellschrauben, um ÄrztInnen die Praxis auf dem Land zu versüßen. Unter anderen hat die Jamaika-Regierung vereinbart, zehn Prozent der Medizinstudienplätze an Studierende zu vergeben, die später in „unterversorgten Regionen praktizieren“.

Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) sieht die „Landarztquote“ kritisch, auch Ärztekammer-Präsident Herrmann ist skeptisch: „Ein Studienanfänger müsste sich mit 18 Jahren entscheiden, sein Berufsleben auf dem Dorf zu verbringen – das ist unrealistisch. Nicht jeder taugt zum Hausarzt, aber das entscheidet sich meist erst im Studium.“ Statt Zwang seien Anreize sinnvoller, so Herrmann.

Tatsächlich tut sich etwas im starren Gesundheitssystem. So sind seit Kurzem Zweigpraxen erlaubt – gemeint ist, dass eine größere Praxis Filialen betreiben darf. Über 200 gibt es im Land bereits. Passend dazu wurde die Residenzpflicht aufgehoben. ÄrztInnen müssen also nicht mehr dort leben, wo sie praktizieren – das kommt allen entgegen, die in einer Stadt wohnen und ins Dorf pendeln wollen. Und weil Jüngere oft das Risiko und die langen Arbeitszeiten einer Allein-Praxis scheuen, bilden sich immer häufiger medizinische Versorgungszentren, in denen mehrere ÄrztInnen zusammenarbeiten.

In den vergangenen Jahren hat sich der Kreis zugelassener Betreiber dieser Zen­tren ausgeweitet. Teilweise treten Kommunen als Träger auf, sorgen also selbst für die ärztliche Versorgung am Ort. Auch Klinikkonzerne drängen auf den Markt. Laut Bericht der Ärztezeitung sind Kliniken bei mehr als der Hälfte der 87 Medizinischen Versorgungszentren in Schleswig-Holstein beteiligt, in Mecklenburg-Vorpommern sei der Trend sogar noch stärker. Dabei übernehmen die Konzerne die Arztsitze, indem sie die InhaberInnen einer Praxis zunächst anstellen. Gehen die ÄrztInnen in den Ruhestand, bleibt der Kassensitz erhalten.

Die Politik sieht diese Entwicklung mit Sorge: Im Oktober sagte Minister Garg vor dem Freien Verband Deutscher Zahnärzte, er teile deren Forderung, die Betreiber der Medizinischen Zentren stärker zu regulieren: „Wir können nicht zulassen, dass Finanzinvestoren im großen Stil Arztsitze aufkaufen und die Bildung großer Ketten forcieren.“

Allerdings seien die Konzerne meist an Facharztsitzen interessiert, so Herrmann. Er hält die medizinischen Versorgungszentren für ein gutes Modell gegen den Hausarztmangel – allerdings bedeuten sie Konzen­tration. Nicht schlimm, meint der Kammer-Präsident: „Es hat auch nicht jeder Ort einen Kaufmann.“ Es müssten also die Wege organisiert werden: Kranke könnten per Bürgerbus zum Arzt kommen – oder die Technik überbrückt die Entfernungen. „Medizinisch-technische Angestellte fahren herum, der Doktor wird zugeschaltet“, sagt Herrmann.

So soll es künftig auch auf Hallig Hooge laufen. Im Januar startet ein Modellprojekt des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein unter dem Titel „Hallig-eMed“. Dabei soll der Halligpfleger – den gibt es auf dem Eiland – Krankendaten per Internet nach Kiel schicken und sich die fachliche Hilfe holen. Unter Einsatz einer Google Glass-ähnlichen Datenbrille können die Fachleute im Uni-Klinikum mit den PatientInnen reden. Das klappt bei jedem Wetter. Solange die Leitung steht.