Die Schwäche der SPD

SPD-Chef Franz Müntefering ist bei einem Wahlkampfauftritt zusammengebrochen. Zu wenig getrunken? Oder rebelliert sein Körper gegen die ständige Beteuerung des unmöglichen Wahlsiegs?

VON RALPH BOLLMANN

Ist das eigentlich ein Thema? Ein 65-jähriger Mann, der sich derzeit Arbeitstage von mindestens 16 Stunden zumutet, quer durch die Republik eilt, dabei kaum isst und trinkt, ein solcher Mann erleidet einen Schwächeanfall. Er kommt in die Klinik, und die Ärzte stellen fest: nichts Ernstes.

Der Vorfall wäre also nicht bemerkenswert, wenn, ja wenn in diesen Tagen nicht gerade Wahlkampf wäre und der 65-Jährige nicht der Vorsitzende der Regierungspartei. Dann senden die Agenturen Eilmeldungen, und die Bild-Zeitung druckt auf der ersten Seite ein Foto des ohnmächtigen Franz Müntefering.

Ohnmacht ist das Stichwort: Zu den Insignien der Mächtigen gehört nicht zuletzt die Allmacht über den eigenen Körper. Physische Schwäche wird schnell in politische Schwäche umgedeutet. So hatte Stalin seinen europäischen Vormarsch nach dem Zweiten Weltkrieg im Urteil vieler Zeitgenossen nicht zuletzt der Krankheit seines Widersachers Roosevelt zu verdanken.

Im Wahlkampf gilt das mehr als sonst. Fast scheint es, als diene das Marathon dieser Tage vor allem einem Zweck: die geistige und körperliche Belastbarkeit der Kandidaten zu testen. Was in Amerika bisweilen ganz offen diskutiert wird, bleibt hierzulande meist unausgesprochen. Nur im Extremfall wird es plötzlich Thema, wenn Stoiber die Nerven verliert oder eben Müntefering die Gewalt über sich selbst.

Dass ein solcher Zusammenbruch ausgerechnet den SPD-Vorsitzenden ereilt, gibt dem Vorfall noch eine zusätzliche Symbolik. Schließlich hat man sich in den vergangenen Wochen schon gefragt, wie Schröder und Müntefering die Fassade ihres Als-Ob-Wahlkampfs überhaupt aufrechterhalten, wie sie wider besseres Wissen unentwegt erklären können, sie glaubten die Wahl noch zu gewinnen.

Mehr noch als für Müntefering trifft das auf Schröder zu, dessen souveränes Dauerlächeln in auffallendem Kontrast zu seinen realen Wahlchancen steht. Das hat fast schon Züge einer gespaltenen Persönlichkeit, eines Phänomens, das für die Betroffenen nicht selten im Zusammenbruch endet. Man denke nur an Ibrahim Böhme, die einstige Hoffnung der Ost-Sozialdemokratie, der sich neben seiner verschwiegenen Stasi-Vergangenheit eine zweite Existenz als oppositionelle Lichtgestalt konstruiert hatte.

Bisher galt im Politikbetrieb die Regel, solche Widersprüche einfach durchzustehen bis zum völligen Zusammenbruch. Wirklich offen reden darüber meist nur Politiker, denen es wahltaktisch nicht mehr schaden. Ob Roman Herzog, Helmut Schmidt oder der inzwischen verstorbene Hans-Jürgen Wischnewski – sie alle taten in Talkshows, was früher für sie undenkbar war: Sie breiteten in aller Ausführlichkeit ihre Krankengeschichte aus.

So weit ist Müntefering nicht, zumindest nicht vor dem 18. September. Ob man die Parallele zwischen seinem Schwächeanfall und der Schwäche der SPD für geschmacklos hält oder nicht, nun ist sie in der Welt, da sind die Gesetze der politischen Symbolik unerbittlich. Obwohl es, rein menschlich betrachtet, wohl bedenklicher wäre, Müntefering würde in seiner Lage gar keine Anzeichen von Schwäche erkennen lassen.