Was passierte in der Putschnacht?

Die türkische Justiz hat Offiziersschüler als Umstürzler verurteilt. taz gazete liegen Aufzeichnungen vor, die der Anklageschrift widersprechen

Das ist keine Übung: Ein Bürger greift nach dem Gewehr eines jungen Soldaten Foto: Sedat Suna/epa/picture alliance

Von Erk Acarer

Aufnahmen von der Putsch­nacht zeigen junge Soldaten auf den Bosporusbrücken, auf dem Taksim­platz oder an der Mautstation Orhanlı. Überforderte, verunsicherte, erschrockene Soldaten. In dieser Nacht griffen Zivilisten Offiziersschüler der Luftwaffe an, die beide Brücken abgesperrt hatten. Zwei von ihnen schnitten sie die Kehle durch. Manche der Soldaten wirken erschrockener als die Bürger*innen, die sich in dieser Nacht auf die Straßen trauen. Heute, mehr als zwei Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch, sitzen 259 Offiziersschüler der Luftwaffenakademie in den Hochsicherheitsgefängnissen von Sincan bei Ankara, Bakırköy und Silivri bei Istanbul. Sie wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht hat sie für schuldig befunden, gegen die Regierung geputscht zu haben.

Ein ungewöhnlicher Offiziersbesuch

In der Nacht vom 15. Juli 2016 hatte eine Gruppe von Offizieren versucht, die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan zu stürzen. 251 Menschen kamen ums Leben, 2.196 wurden verletzt. Nach dem Putschversuch wurden Tausende Soldaten entlassen oder verhaftet. „Die letzten anderthalb Jahre habe ich damit zugebracht, auf diesen Tag zu warten.“ So beginnt der in Istanbul geborene Mustafa Sayar seine Verteidigung im Prozess gegen die Kadetten der Luftwaffenakademie. Sayar habe mit seiner Einheit an der Mautstation Orhanlı auf der asiatischen Seite Istanbuls nahe dem Flughafen Sabiha Gökçen den Umsturz versucht, heißt es in der Anklageschrift. In seiner Aussage vom 9. November 2017 berichtete er, was am 15. Juli geschah.

Der damalige Kommandant der Luftwaffe, Abidin Ünal, besuchte mit einer hochrangigen Delegation um 10.30 Uhr das Camp. Auch Generalleutnant Hasan Küçükakyüz, der heutige Oberkommandierende der Luftwaffe, war dabei. Die Befehlshaber konferierten und kamen anschließend mit den jungen Soldaten zusammen. Sayar erzählt davon in seiner Aussage: „Wir aßen gemeinsam zu Mittag. Nach dem Essen hielt Abidin Ünal vor uns eine Rede über Gehorsam.“ Auch andere Angeklagte berichten vor Gericht von dem Besuch der Delegation. Es ist ungewöhnlich, dass dieser Besuch zwei Tage nach Beginn der Ausbildung in Yalova stattfindet. Normalerweise kommen Offiziere erst zum Ende der Ausbildung ins Sommerlager. Nahezu alle Kadetten sagten aus, der Besuch habe sie verwundert.

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Sayar zufolge kehrte nach dem Besuch wieder Routine im Camp ein. Zu späterer Stunde aber, als die Soldaten sich für die Nachtruhe fertigmachten, kam der Befehl: Die Soldaten, deren Nummer ausgerufen wird, sollen bewaffnet und in voller Ausrüstung antreten. Auch Sayars Nummer, die 90, wurde gerufen. Er glaubte, es handele sich um eine Übung. Busse wurden mit Waffen und Munition beladen.

Eine taz gazete exklusiv vorliegende Tonaufzeichnung deutet darauf hin, dass auch einige der befehlshabenden Offiziere im Bus nach Orhanlı nicht über die Lage unterrichtet waren. Der Leutnant Emre Demirbilek zeichnete die Gespräche auf seinem Smartphone auf. In der Sprachnachricht von 46 Sekunden klingt der Leutnant aufgebracht. Er sagt, der Befehl habe gelautet, in voller Ausrüstung anzutreten, ihm sei verboten worden, ins Internet zu gehen.

Die ersten Busse verließen das Camp gegen Mitternacht. Auch andere Soldaten rannten in voller Ausrüstung herum. Der Offiziersschüler Mohammed Ali Taş sagt vor Gericht aus, sein Hauptmann Sinan Canlı habe gerufen: „Nicht anhalten. Wer mosert, kriegt einen Kopfschuss.“ Murat Hüdavendigar Öncü, ein weiterer Offiziersschüler, erinnert sich, sein Oberleutnant habe erklärt: „Es gibt eine Terroraktion.“

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Es war nach 1 Uhr nachts, als Staatspräsident Erdoğan das Volk aufrief, sich dem Militär entgegenzustellen. Weil die Straßen voller Menschen und Autos waren, stoppten die beiden Busse gleich hinter der Mautstation Orhanlı. In dieser Nacht kamen hier 6 Personen ums Leben, 33 wurden verwundet. Zwischen Sicherheitskräften, Zivilisten und Putschisten hätten längere Kämpfe stattgefunden, heißt es in der Anklageschrift.

Was sich an der Mautstation ereignete, lässt sich kaum rekonstruieren. Videoaufnahmen stellen die Anklageschrift in Frage. 54 Zivilisten und Polizisten sagten aus, dass Soldaten auf Zivilisten und Polizeikräfte geschossen hätten, um den Weg freizubekommen. Ein Polizist sagte aus, die Soldaten hätten das Feuer eröffnet, nachdem sie aufgefordert worden seien, sich zu ergeben. „Man schoss auf mich, weil ich Allahu akbar gerufen hatte“, berichtete eine Zivilistin.

„Wir wussten nichts von einem Putschversuch“
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Die Aufnahmen der Überwachungskameras in Orhanlı zeichnen ein anderes Bild. Die Anwälte der angeklagten Offiziersschüler werfen dem Gericht vor, die Kameraaufzeichnungen außer Acht gelassen zu haben. Auf dem zweiminütigen Video vom 16. 7. 2016, 01:28:45 Uhr läuft eine Gruppe Soldaten ins Bild. Sie schießen nicht, laufen an den Zivilisten vorbei, von denen manche erschrocken in ihre Autos einsteigen. Es sind keine Auseinandersetzungen zu sehen. Um 01:29:00 Uhr werfen sich Soldaten und Zivilisten gleichzeitig auf den Boden. In derselben Sekunde blitzt Mündungsfeuer auf. Um 01:29:42 Uhr läuft von rechts ein Soldat ins Bild, es ist Leutnant Emre Demirbilek. Zivilisten, die hinter Autos in Deckung gegangen sind, wenden ihm den Rücken zu. Um 01:29:48 Uhr kniet Demirbilek und zielt in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen sind. Um 01:30:12 Uhr rennt er aus dem Bild.

Anwalt Tuncay Kılıç sagt: „Ich habe die Aufzeichnungen bei der Verhandlung vorgeführt. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um eine Automatikwaffe. In den Berichten der Gerichtsmedizin heißt es, die Art des Materials, das zum Tod geführt hat, konnte nicht ermittelt werden. Die vom Militär verwendete Munition ist aber bekannt.“ Offiziersschüler Sayar beendet seine Verteidigung mit den Worten: „Wir wussten nichts von einem Putsch. Wir haben nicht auf die Bevölkerung geschossen.“ General Abidin Ünal, der laut Angaben der Offiziersschüler am 15. Juli das Camp in Yalova besuchte, sitzt heute nicht im Gefängnis. Er sei nicht am Putsch beteiligt gewesen, habe sich vielmehr dagegen gestellt, versicherte er. Die Offiziersschüler, zu denen er am Tag des Putschversuches sprach, wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Soldaten, die in der Putschnacht gefallen sind, wurden ohne Zeremonie auf anonymen Friedhöfen bestattet. Offiziell sind sie nun Verräter.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe