Die Wahrheit: Zu alt für diese Welt

Nichts gegen Höflichkeit, aber plötzlich wird man von allen gesiezt. Und schlimmer noch: Jetzt wollen alle gesiezt werden.

Neulich hatte ich irgendeinen runden Geburtstag, welcher, ist jetzt mal egal, und ich dachte eigentlich, der hätte keine besonderen Auswirkungen auf mein Leben. Es scheint aber anders zu sein.

Es begann kurz vor diesem Geburtstag. Tramper sind inzwischen so selten wie Punker, aber neulich stand ein Punk an der Straße und hielt den Daumen raus. Ich stoppte. Er sagte: „Cool, dass Sie mich mitnehmen.“ Ich antwortete: „Du musst mich nicht siezen.“ Er gab zahm zurück: „O, entschuldigen Sie bitte!“

Das ist nicht mein einziges Erlebnis. In einer wunderschönen Stadt, in der ich lange wohnte und immer noch häufig bin, ging ich ins Kino. Ein Kino, bei dem ich das Gefühl habe: „Das ist mein Kino!“ Alternativ und trotzdem technisch erstklassig! Sogar Dennis Hopper war hier schon mal zu Gast.

Es wird von Freunden betrieben, an der Eröffnung hatte ich mitgewirkt, und wenn die Kollegen da sind, muss ich nicht mal Eintritt zahlen, obwohl ich dort sehr gern Eintritt zahle. Manchmal sind da aber auch Mitarbeiterinnen, die ich nicht kenne, Studentinnen meist. Diese kannte ich nicht. Vielleicht sagte ich etwas zu selbstverständlich: „Ich müsste mal ins Kino.“ Sie schwieg, holte kurz und tief Luft und sagte sehr, sehr streng: „Ich möchte von Ihnen gesiezt werden. Ich kenne Sie überhaupt nicht.“

Na ja, ich kannte sie ja auch nicht, aber mir war das eigentlich egal. Ich wollte noch nie von irgendjemandem gesiezt werden. Ich stamme aus dem Du-Zeitalter. Ihr Satz hallte in mir nach: „Ich möchte von Ihnen gesiezt werden.“ Sie erinnerte mich an Tante Hannelore. Die hat auch diesen strengen Tonfall, wobei ich Tante Hannelore noch nie siezen musste.

Ich war perplex. Das kannte ich nicht. Schon gar nicht in „meinem“ Kino, aber für sie gehörte ich scheinbar zu den unangenehmen Duzern aus der Alte-Säcke-Abteilung. Aber hatte ich überhaupt „du“ gesagt? Ich konnte mich gar nicht erinnern, so perplex war ich. Egal! „Na ja“, sagte ich, „wenn ich da was gesagt hab, was blöd war für Sie, bitte ich um Entschuldigung.“

Ich war bereit, viel dafür zu tun, um endlich diesen Film sehen zu können. Da, wo ich jetzt wohne, laufen solche Filme gar nicht. „Ich nehme Ihre Entschuldigung an!“, sagte sie. Noch ein Bier zu kaufen, wäre jetzt eine unnötige Provokation gewesen.

Ich saß im Kino und zermarterte mir den ganzen Film über mein Hirn, was ich gesagt haben könnte. Als Mackie Messer dann im Knast saß, fiel mir ein, dass ich, weil ich vor dem Film noch kurz telefonieren wollte, sie gefragt hatte: „Sag mal, wie lang ist die Werbung?“ Wegen dem Satz wollte sie gesiezt werden? Ist die U-30-Generation so verspießert?

Nach dem Film kam ich an einer Bierkathe vorbei. Ich blickte durstig durchs Schaufenster, in dem ich mich spiegelte. Für diesen Laden, das sah ich in der Spiegelung, war ich zu wenig tätowiert, mein Bart zu kurz und mein Alter entschieden zu hoch. Ich bin zu alt für diese Welt.

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Der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking steht seit über zwanzig Jahren auf der Bühne. Er schreibt Kolumnen für die »Wahrheit«-Seite der »taz«, Kinderhörspiele für den WDR Hörfunk sowie Bücher – und die am liebsten über Finnland: »Finne Dich Selbst!« und »Das kuriose Finnland-Buch«, alle erschienen im Fischer Verlag. Wenn er nicht schreibt, dann tourt er mit seinen Kabarettprogrammen »Gefühlte Dreißig«, »Finne Dich Selbst!« sowie - jeweils in den Wintermonaten - mit seinem alljährlichen satirischen Jahresrückblick »Ab dafür!« durch die Republik.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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