„Den Bildungsbürger besser zu Hause lassen“

STADTFÜHRUNG Die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums von Istanbul schafft neue Ungleichheiten. Der Stadtführer Orhan Esen will diesen Prozess mit seinen gesellschaftlichen Widersprüchen vor Ort zeigen

Reiseleiter, Linker, Historiker und Vermittler zwischen deutscher und türkischer Sprache und deutscher und türkischer Denkweise. Geboren 1960, „typischer“ Istanbuler in zweiter und dritter Generation. Selbstständig als Stadtforscher, Autor und Herausgeber. Themen: von nachhaltiger Stadtentwicklung zu Stadtumbau. Foto: Privat

INTERVIEW DILEK ZAPTCIOGLU

taz: Mit welcher Geisteshaltung sollte der Besucher nach Istanbul kommen?

Orhan Esen: Ohne sich irgendwas darunter vorzustellen. Er sollte die Stadt auf sich zukommen lassen, ohne ständig Vergleiche anzustellen mit „zu Hause“ oder anderen bereisten Städten. Man sollte Istanbul für sich wahrnehmen, genießen und zu verstehen versuchen. Je erfolgreicher man die eigene Schulbildung ausklammert und mit unvoreingenommenen Augen durch die Straßen streift, desto besser.

Sind denn viele Ihrer deutschen Gäste voreingenommen?Nun ja, es gibt den notorischen deutschen Bildungsbürger. Den sollte man bei seinen Reisen an ferne Gestade besser zu Hause lassen.

Wie hat sich die Stadt in den letzten, sagen wir, zehn Jahren verändert?

Istanbul ist nicht eine Stadt. Metropolen dieser Größenordnung bestehen gewöhnlich aus mehreren Schichten neben- und übereinander. Eine für alle gleichermaßen geltende Antwort lässt deshalb sich schlecht geben. Etwas abstrakt kann man sagen: Wir sehen, wie die neuen großen Akteure, die Konzerne und Global Player, immer stärker die Entwicklung der Stadt dominieren. Und wir können sehen, dass die Neubauten, die moderne Umgestaltung der Stadt Istanbul, vor allem der Kapitalakkumulation dient. Es ist die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums wie überall. Sie erzeugt hier wie anderswo auch neue Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten. Es ist interessant, diesen Prozess vor Ort wahrzunehmen, aber auch den Widerstand dagegen. Deshalb besuche ich auf meinen Stadttouren gewöhnliche Wohnquartiere, markante öffentliche Räume oder die Wasserfront.

Sie sind Historiker und haben sich auf Fragen der Stadtentwicklung spezialisiert. Wie verbindet sich das mit dem Beruf als Reiseleiter?

Die Umgestaltung der Stadt Istanbul dient vor allem der Kapitalakkumulation

In den letzten Jahren haben sich verschiedene Fäden meines Lebens zusammengefunden – oder besser: Ich habe gezielt an dieser Konzentration gearbeitet: Der freischaffende Akademiker, der Forscher und Betrachter, der Wirtschaftshistoriker und der Aktivist in Sachen urbaner Politik kulminierte im Reiseleiter. Heute konzipiere und führe ich Reisen, die sich mit dem Unspektakulären, mit dem Alltäglichen der Metropole befassen. Reisen, die Entwicklungen und die von diesen Entwicklungen betroffenen Menschen zeigen wollen.

Wo würden Sie außer in Istanbul leben wollen?

Entweder in einer anderen richtigen Metropole mit größerer Heterogenität und, wenn es sein muss, auch mit mehr Konflikt und Ärger. Oder aber inmitten der Natur, auf dem Lande. Aber auf keinen Fall in einer Kleinstadt!