Kampf und Konsumlust

Von Protest bis Pop: Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt in einer gelungenen und beeindruckend ausgestatteten Ausstellung Politik und Kultur rund um „1968“

Der Letzte hisst die rote Fahne: Videostill aus Gerd Conradts Übungsfilm „Farbtest – Rote Fahne“ von 1968 Foto: Gerd Conradt, Mandala Vision

Von Hajo Schiff

Es war eine Zäsur und wurde ein Mythos: das Jahr 1968. Die im Umkreis dieses Datums manifesten Ideen und Formen werden als antiautoritäres Fanal verklärend gefeiert oder immer noch bekämpft. 50 Jahre danach werden diesem Stichdatum von Berlin bis Zürich zahlreiche Ausstellungen gewidmet, diejenige im Ludwig-Forum in Aachen wurde sogar vom Kunstkritikerverband Aica zur besten Ausstellung des Jahres gekürt.

Auch das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt nun ein materialreiches Stimmungsbild dieser zugleich individuell hedonistischen und sozial engagierten Aufbruchszeit, natürlich mit besonderer Berücksichtigung Hamburger Ereignisse.

Schon im November 1967 tragen die Jura-Studenten Detlev Albers und der spätere Staatsrat Gerd Hinnerk Behlmer bei einer Rektoratsfeier der Universität den historisch gekleideten Ordinarien das berühmt gewordene Banner mit dem Text „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ voran. Mit Klebeband auf dem Trauerflor von Benno Ohnesorgs Beerdigung geschrieben, hängt das Original in der Ausstellung über den vielen theoretischen Flugblättern und gleich bei der besprühten Bronze des Kolonialbeamten Hermann von Wissmann, die im Folgejahr vom Sockel vor der Uni gestürzt wurde.

In Vitrinen liegt das „Kapital“ von Karl Marx mit den Anmerkungen von Rudi Dutschke, ein Band aus dem Nachlass, der sich im Hamburger Institut für Sozialforschung befindet, oder die kleine rote „Mao-Bibel“, ein damals unverzichtbares Buch-Accessoire aus dem Privatbesitz der für die Ausstellung verantwortlichen Direktorin Sabine Schulze.

Obwohl erstaunlich vieles tatsächlich genau vor 50 Jahren geschah, steht die Marke „68“ weiter gefasst für die Politik und Kultur von 1966 bis 1970, von Maos Kulturrevolution und der Gründung der Black Panther bis zum Kniefall Willy Brands in Warschau und dem Beginn des RAF-Terrors, umfasst Ereignisse wie 1967die Ermordung von Che Guevara und Benno Ohnesorg, den Sechstage- und Biafrakrieg und 1969 die Mondlandung und das Woodstock-Festival.

Von Mao zur Mondlandung

Und aller Protest, alle Experimente neuer libertärer Formen des Miteinanders stehen immer unter dem Eindruck des Vietnamkrieges, dem Sound der Elektrogitarren und der Bild­explosion eines neuen Kinos. Seien es die Diskurs-Filme von Jean-Luc Godard oder der bis heute beeindruckende Rausch von Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“, sei es die Hamburger Filmmacher Cooperative um Hellmuth Costard und Werner Nekes oder „Barbarella“ von Roger Vadim, der Jane Fonda im Blech-Dress von Paco Rabanne in erotische Weltraumabenteuer schickte.

„Easy Rider“ weckte den Traum grenzenloser Freiheit, zeigte aber auch schon das Scheitern an der Reaktion. Antonionis „Zabriskie Point“ führte Visionen freier Liebe vor und die Konsumkritik in der Villensprengung in Zeitlupe zur Musik von Pink Floyd. Allein diese Ausschnitte zeigen zu können, kostet die mit zahlreichen Film- und Hörbeispielen gut ausgestattete Ausstellung mehrere Tausend Euro für die Rechte.

Die damals allgemeine Revolte war vorbereitet durch Literatur, Theater und die neue Rezeption philosophischer Texte. Sie fand ihren Ausdruck sogar in der Oper: Die Uraufführung von Werner Henzes „Floß der Medusa“ unter einer roten Flagge wurde in Hamburg zu einem Skandal.

„1968“ wurde aber vor allem zu einem ungeheuren kulturellen Innovationsschub, nach anfänglichen Aufbrüchen aus den teils bis auf die Nazizeit zurückgehenden gesellschaftlichen Verkrustungen waren weitgehende Veränderungen so schnell nicht zu haben, sie mussten im „Marsch durch die Institutionen“ durchgesetzt werden. Doch manches wie die Anti-Bild-Kampagne „Enteignet Springer“ blieb bis heute ein Wunschtraum.

Kämpferische Sit-in-Basis: Gaetano Pesces Sessel und Hocker symbolisieren eine starke Frau, die von Zwängen und Konventionen gehemmt wird Foto: Cassina & Busnelli

Denn der Kapitalismus regierte mit seiner wesentlichsten Kompetenz: Die politische Sprengkraft wurde in bunten Konsum umgeleitet. Bereits wenige Monate nach den hier durch die handgemachten Plakate repräsentierten Straßenkämpfen des Pariser Mai werden die Haltungen der Revolte kommerzialisiert. Ist die Gesellschaft schon nicht zu ändern, wird die Warenwelt revolutioniert.

Das zeigt der zweite Teil der Ausstellung mit dem ganzen bunten Design der Zeit: Hippie-Mode und delierende Schallplattencover, Minirock und Papierkleider, Mode der Ikonen Twiggy oder Mary Quand, jugendliche Prêt-a-porter-Kollektionen der „Rive Gauche“, Werbewelten wie Charles Wilps „Afri-Cola-Rausch“ oder Space-Age-Möbel. Wobei die Pop-Kultur wenigstens etwas Demokratisches behält: Sie ist zugänglicher und preiswerter als früher. Auch die im Museum teilweise reinstallierte Kantine von Verner Panton in ihrer orangenen Pop-Pracht gehört mit zur Ausstellung: Sie wurde 1968 samt einem superbunten Farbsystem für das ganze Gebäude vom Spiegel beauftragt.

Anregender Ausblick

Die kreativen Reaktionen auf die politische Lage erreichten 1968 eine einmalige, teils bis heute wirkende Vielfalt. Zu wünschen ist, dass all dies nicht nur eine schwarz-bunte Erinnerung bleibt, sondern zu neuen, Freiheit und Selbstbestimmung steigernden Aktivitäten führt. So sind die noch vor den einstimmenden fünf Großleinwänden mit damaligen politischen Schlüsselbildern am Eingang der Ausstellung positionierten Videos von heutigen Straßenaktionen als anregender Ausblick zu nehmen.

Und immerhin haben allein am eintrittsfreien „Tag der Reformation“ 15.000 Interessierte diese gelungene letzte Ausstellung der scheidenden Direktorin Sabine Schulze besucht – und haben das Ganze wohl nicht nur als Werbung für Retro-Astro-Lava-Lampen rezipiert. Aber es darf auch auf der Sitzlandschaft gelümmelt werden: Dazu läuft in voller Länge der Musikfilm zum Montery-Pop-Festival samt legendärem Auftritt von Jimi Hendrix.

„68 – Pop und Protest“: bis 17. März 2019, Museum für Kunst und Gewerbe