Gefährlicher Giftberg

Die Geschäftsführer von Europas größter Giftmüllhalde weisen Vorwürfe aus einem Prüfbericht zurück. Zu hohe Giftwerte seien Einzelfälle, das Trinkwasser nicht in Gefahr

Große Verunsicherung: Wie giftig die Mülldeponie Ihlenberg wirklich ist, muss noch geprüft werden Foto: Bernd Wüstneck/dpa

Aus Lübeck Sven-Michael Veit

Norbert Jacobsen versteht die Welt nicht mehr. „Wir sorgen für die Entsorgungssicherheit Norddeutschlands“, versicherte der Technische Geschäftsführer der Deponie Ihlenberg am Dienstagabend vor dem Umweltausschuss der Lübecker Bürgerschaft. Die in einem Prüfbericht erhobenen Vorwürfe basierten sämtlich auf einer „oberflächlichen Prüfung“ und seien durchweg unkorrekt: „Die Vorwürfe stimmen in Gänze nicht“, so Jacobsen, und hätten „zu großer Verunsicherung“ unter MitarbeiterInnen und in der Bevölkerung geführt. „Wir sind sehr betroffen von diesem Bericht“, sagte die Kaufmännische Geschäftsführerin Beate Ibiß: „Eine Gefährdung des Trinkwassers können wir ausschließen.“

Am Mittwoch hatte die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern hohe Grenzwert-Überschreitungen bei Schwermetallen in Ihlenberg eingeräumt. Auf Europas größter Giftmülldeponie kurz vor der Landesgrenze zu Schleswig-Holstein und damit nur wenige Kilometer von der Großstadt Lübeck entfernt, soll wesentlich mehr und wesentlich giftigerer Sondermüll eingelagert worden sein als zulässig, zudem habe es an Kon­trollen gemangelt. So steht es in einem Prüfbericht des ehemaligen Chefrevisors der Deponie, Stefan Schwesig, im Auftrag des Finanzministeriums.

Eine zweifelhafte Lieferung aus dem italienischen Livorno im Dezember 2017 war für den Entsorgungsexperten und Ehemann von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) Anlass gewesen, die Vorgänge in Ihlenberg unter die Lupe zu nehmen. Er fand heraus, dass der in Ihlenberg erlaubte Grenzwert für Cadmium um mehr als 3.000 Prozent übertroffen wurde, bei Zink um 9.500 Prozent. In einer Charge, die im Mai aus Hannover angeliefert wurde, seien die Grenzwerte für Quecksilber sogar um 17.900 Prozent überschritten worden.

„Mangelnde Kontrollen“ hatte Schwesig kritisiert und eine hohe Risikobereitschaft der Unternehmensleitung. Offenbar stehe „allein das Geschäftsvolumen im Mittelpunkt“. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Deponie, Hans-Thomas Sönnichsen, hatte Schwesig hingegen mangelndes Fachwissen vorgeworfen. Der Prüfbericht sei „inhaltlich bedenklich“.

Jacobsen räumte den Quecksilberfall ein. Aber bei mehr als 13.000 erhobenen Werten pro Jahr gebe es nur 64 auffällige Proben, davon seien lediglich elf „toxikologisch relevant“ gewesen – Einzelfälle eben. Rechtlich, beharrte Jacobsen, „ist uns nichts vorzuwerfen“.

Die Deponie Ihlenberg in der mecklenburgischen Gemeinde Selmsdorf östlich von Lübeck ist mit einer Fläche von 165 Hektar (zum Vergleich: die Hamburger Außenalster umfasst 160 Hektar, der Maschsee in Hannover 78 Hektar) die größte Giftmülldeponie Europas.

In Betrieb genommen wurde sie unter dem Namen „Schönberg“ 1979 von der DDR-Regierung, um mit Sondermüll aus West-Deutschland und anderen westlichen Staaten Devisen einzunehmen – auf Kontrollen des angelieferten Abfalls wurde weitgehend verzichtet.

Auf der Deponie am Hang des 83 Meter hohen Ihlenbergs lagern inzwischen etwa 19 Millionen Kubikmeter Sondermüll und Industrierückstände, für etwa weitere sieben Millionen wäre noch Platz.

Nach der Wiedervereinigung wurde das Ausmaß der Umweltgefahren, die von der Deponie ausgingen, deutlich. Zwei Untersuchungsausschüsse tagten, eine Ministerin und ein Staatssekretär mussten zurücktreten.

1992 wurde der Name vom berüchtigten „Schönberg“ in „Ihlenberg“ geändert. Betrieben wird die Deponie von der landeseigenen Ihlenberger Abfallentsorgungsgesellschaftschaft.

Anfang der 1990er-Jahre stand Ihlenberg, damals noch unter dem alten Namen „Schönberg“, im Zentrum eines Giftmüllskandals. Seitdem wird die Deponie von Mecklenburg-Vorpommern als landeseigenes Entsorgungsunternehmen geführt.

Lübecks Umweltsenator Ludger Hinsen kündigte vor dem Umweltausschuss an, die Kontrollen des Lübecker Trinkwassers zu intensivieren: „Dass wir noch nichts gefunden haben, heißt nicht, dass alles in Ordnung ist.“ Nach seiner Ansicht müsse die Stadt künftig einen Sitz im Beirat des Ihlenberg-Betreibers bekommen, um rascher und umfassender informiert zu werden. Zugleich kritisierte der CDU-Politiker das schleswig-holsteinische Umweltministerium des grünen Ministers Jan Philipp Albrecht. Das habe es abgelehnt, so Hinsen, an der Sondersitzung in Lübeck teilzunehmen mit der Begründung, das sei schließlich eine Sache des Nachbarlandes Mecklenburg-Vorpommern.

Einstimmig beschloss der Ausschuss, von Mecklenburg-Vorpommern einen umfassenden Bericht zu fordern, einen Sitz im Kontrollgremium und regelmäßige jährliche Berichte des Deponiebetreibers. Außerdem solle Schwesigs Prüfbericht von einem externen naturwissenschaftlichen Gutachter überprüft werden.