Der Brexit frisst seine Kinder

Eine erneute Rücktrittswelle aus Großbritanniens Regierung schwächt Premierministerin May weiter. Auch ihre Partei rebelliert

Theresa May nach der Brexit-Marathonsitzung des britischen Kabinetts am Mittwochabend. Am nächsten Morgen war die Einigkeit schon wieder Geschichte Foto: Henry Nicholls/reuters

Von Dominic Johnson

Sechs Rücktritte binnen weniger als sechs Stunden – der Aderlass, den der Brexit-Deal zwischen Großbritannien und der EU in der britischen Regierung herbeigeführt hat, ist spektakulär. Noch am Mittwochabend hatte Theresa Mays Kabinett nach einer Marathonsitzung den Brexit-Vertragsentwurf trotz erheblicher Differenzen gebilligt. Aber am Donnerstag war die schwindende Autorität der Regierungschefin deutlich zu spüren.

Im Anschluss an ihr Statement vor dem Unterhaus, wo sie über die Kabinettssitzung Bericht erstattete, dauerte es über eine Stunde, bis überhaupt ein Abgeordneter ihr die Unterstützung zusagte. Selbst in der eigenen Fraktion überwog Kritik.

Auf den Punkt gebracht hatte das konservative Unbehagen mit Mays Brexit ausgerechnet Brexit-Minister Dominic Raab, dessen Rücktritt am Vormittag geradezu symbolhaft für das Zerbröseln von Mays Kurs erschien. Es gehe um „öffentliches Vertrauen“, schrieb Raab und meinte zum vereinbarten unbefristeten Verbleib Großbritanniens in der EU-Zollunion bis zum Zustandekommen einer Folgevereinbarung: „Keine demokratische Nation hat jemals einem solchen von außen aufgezwungenen Regime zugestimmt, ohne jegliche demokratische Kontrolle über die anzuwendenden Gesetze und ohne Möglichkeit des Austritts.“

Raab hatte bereits auf der Kabinettssitzung ähnlich argumentiert, heißt es in Presseberichten, ebenso Arbeitsministerin Esther McVey, die nach Raab ebenfalls zurücktrat, denn sonst „könnte ich meinen Wählern nicht in die Augen schauen“. Beide ließen durchblicken, ohne es explizit zu sagen, dass sie Mays Kurs für einen Verrat halten – Verrat am eigenen Wahlprogramm und an der eigenen Wählerschaft. Vier weitere Staatsminister, die ebenfalls ihre Ämter niederlegten, argumentierten ähnlich.

Mit Raab hat May nun schon ihren zweiten Brexit-Minister verloren. Der erste, David Davis, war im Juli aus Protest gegen Mays Brexit-Pläne zurückgetreten. Am Donnerstagnachmittag blieb unklar, wer der dritte werden könnte. Michael Gove, einer der letzten noch nicht aus der Regierung ausgeschiedenen prominenten Brexit-Wortführer, soll den Posten abgelehnt haben.

Es schien am Mittag fast, als suche eine angeschlagene May Zuflucht im Unterhaus, als sie sich frisch geschwächt der dreistündigen Befragung stellte. Immer wieder wiederholte sie: Es gebe nur diesen Deal, „der beste, der ausgehandelt werden kann“. Die Alternativen: ein No-Deal-Brexit – oder gar kein Brexit. Sie betonte, die Verhandlungen dauerten an. Wenn das Parlament ihren Deal niederstimme, stehe man wieder am Anfang.

Die unmittelbare Frage ist jetzt nicht, ob das Parlament den Deal niederstimmt, wenn er zur Ratifizierung eingebracht wird – dass es für dieses Papier keine Mehrheit geben wird, scheint allen klar zu sein. Die Frage ist vielmehr, ob Theresa May dann überhaupt noch im Amt ist.

Ein Misstrauensvotum durch die eigene Fraktion rückte nämlich am Donnerstag bedeutend näher, nachdem Jacob Rees-Moog, Wortführer der Brexit-Hardliner bei den Konservativen im Parlament, am Nachmittag seinen Antrag dafür bei der Fraktionsführung einreichte. Ob die benötigte Zahl von 48 Antragstellern erreicht worden ist, blieb zunächst unklar. Aber Rees-Mogg durfte schon mal auf den Stufen des Parlamentsgebäudes im Blitzgewitter der Kameras betonen, dies sei „kein Putsch“.