Striche durch die Welt

In Bremen erforscht das inklusive Blaumeier-Atelier das Thema „Grenzen“: gute, schlechte, natürliche – und solche, an denen das Sterben Tausender Menschen längst schon wieder „normal“ geworden ist

Was ist „normal“, was Kreativität, was Krankheit, was Kunst?

Von Jan-Paul Koopmann

Bis zum ersten Stacheldraht dauert es ein wenig. Aber natürlich kommt er gleich mehrfach vor in der Ausstellung „Grenzen“, die das Blaumeier-Atelier derzeit im Bremer Rathaus zeigt. Über zwei Jahre haben 30 Künstler*innen zum Thema gearbeitet, dabei aber weit mehr ans Licht gebracht als den Gewaltapparat der territorialen Weltordnung: Es geht auch um gute Grenzen, die des eigenen Wohlbefindens etwa, die des Körpers, und in abstrakten Arbeiten um Grenzen, die einfach nur da sind. Mit denen man sich arrangieren muss – und wie schwierig das manchmal ist.

Mehr als eine Randnotiz: Blaumeier ist ein inklusives Kunstprojekt, bietet Arbeits- und Gemeinschaftsräume für Menschen mit und ohne Diagnose. Die (vermeintlichen) Beeinträchtigungen der Künstler*innen ziehen sich als roter Faden durch die lange gemeinsame Schaffensphase des Grenze-Projekts. Das reicht vom Kunstschaffen bis zu gemeinsamen Exkursionen. So erkundete man in Berlin die ehemalige innerdeutsche Grenze; sie wird nun auch in mehreren Arbeiten behandelt – allerdings weniger als politischer Schauplatz des Kalten Krieges, vielmehr als massiver Eingriff in den Raum, oder als beklemmend-persönliche Erinnerung an Grenzkontrollen.

Natürlich deutet sich hier oder da eine Krankengeschichten an, das allerdings öfter, als sie auch wirklich vorliegt. Ob die Urheber*innen einzelner Arbeiten nun wovon auch immer betroffen sind – es steht nicht dran am Bild. Was „normal“ ist, was Kreativität, was Krankheit, was Kunst: Das bleibt das Problem des Publikums.

Und das ist hier wichtig, wo es doch um Kunst geht, die sich auch inhaltlich jeder Idee von Normalität verweigert. Begonnen hat das Projekt vor zwei Jahren unter dem Eindruck der sogenannten Flüchtlingskrise. „Tod im Mittelmeer“ heißt ein Gemälde von Beate Wörner. Übergroße Hände ragen da aus einer sich brechenden Welle. Auch das berühmte „Floß der Medusa“ von Théodore Géricault findet sich in gleich mehreren Bearbeitungen wieder. Entscheidend ist aber, dass kaum eine Arbeit in die Politik drängt. Sie alle fragen: „Was macht das mit mir?“

Die Ausstellung und ihre drängenden Fragen gehen weit über die randvoll bespielte Rathaushalle hinaus: Ein paar Straßen weiter zeigt das Gerhard-Marcks-Haus figürliche Arbeiten des zweiteiligen Projekts, von Direktor Arie Hartog inmitten „normaler“ Arbeiten platziert. Bremer Kinos zeigen außerdem Filmarbeiten des Projekts. Eine Verunsicherung, die um sich greift, wo man sich längst schon wieder gewöhnt hat, an Tote an der Grenze.

„Grenzen“: bis So, 11. 11., Bremen, Untere Rathaushalle (Malerei) und Gerhard-Marcks-Haus (Skulpturen)