Die Liebe als Grundnahrungsmittel

Reise- und Höreindrücke: Der Sound von Vietnam und die Kompilation „Saigon Supersound 2“

Von Du Pham

Von den Vietkong wird es als militärisches Gütertransportmittel genutzt, von der Dame auf dem Dorf zum fahrbaren Obst- und Gemüseladen umfunktioniert. Es gibt nichts, was in Viet­nam nicht per Fahrrad befördert wird. Jahrzehnte regierte das Fahrrad die Straßen des südostasiatischen Landes.

Bei meiner Reise durch Viet­nam radle ich auch durch kleine Dörfer Richtung Huế, die alte Kaiserstadt liegt im Herzen des Landes. Von weitem wummert es, die Beats sind laut und schnell. In einem Festzelt wird Hochzeit gefeiert, zum Kirmestechno panscht sich schiefer Karaokegesang. Dieser Sound läuft auch in Ba Tơ, einem Ort, der so verwaist ist, dass die pompöse Statue von Freiheitskämpfern blutleer wirkt.

Der Strand in Đồng Hới. Holzliegen, wehende Laken, ein perfektes Postkartenmotiv. Auch hier: Aus der Anlage tönt wieder dieser Sound, der täuschend echt nach Eurodance klingt. Viet­namesen tanzen ums Lagerfeuer.

Ob Onkel Hồ so tanzen würde, wenn er Saigons Übernahme durch die Kommunisten erlebt hätte? Mein Herz schlägt rot, aber als Tochter einer Saigoner Mutter vermisse ich den Süden. „Sàigòn Ơi“, entzückender kann ein Ausruf nicht sein. Ơi– nicht zu verwechseln mit dem Punk-Subgenre – oft verwendet um Aufmerksamkeit herbeizuführen, vor allem aber als Ausdrucksform für romantische Zuneigung. Die Cha-Cha-Liebeserklärung von Carol Kim ist seit Veröffentlichung 1973 inoffizielle Hymne für viele Südvietnamesen. Pathetisch zeichnet Kim ein Bild ihrer geliebten Stadt Saigon, von Menschen am Hafen, von einem Strom aus Fahrzeugen und wie ihre Füße sie führen. Saigon ist schön, Sàigòn Ơi.

Vietnam funktioniert nicht ohne Pathos. Wenn ich vietnamesische Musik höre, fühle ich mich schwermütig und sehnsüchtig. Appetitanregender hätte Produzent Jan Hagenkötter den Auftaktsong für seine Zusammenstellung „Saigon Supersound Volume 2“ nicht präsentieren können. Wie schon beim ersten Teil der Compilation-Reihe, konzentriert sich auch Nummer 2 auf das „Goldene Zeitalter“ von vietnamesischer Popmusik, es beginnt 1964 und endet 1975.

Mit Ankunft der US-Truppen 1965 integrieren die Vietnamesen Popkultur: Bob Dylan, Jimi Hendrix und Elvis Presley sind Stars, man hört ihren Einfluss auch beim Duo von Hùng Cườngund Mai Lệ Huyền.Zuhören ist eine verwässerte Form von Rock. Die Lyrics thematisieren wilde Liebesgeschichten, wie im Song „Tại Anh Hay Tại Em“.Tragischer hingegen „Con Gái Của Mẹ“– der Songtitel klingt liebevoll, aber der Text von Thanh Tuyềnbeschreibt ein grausames Frauenschicksal, in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Schmerzvoll, fast schon „Cải lương“– einem vietnamesischen Operngenre – ähnlich, nur eben lässiger und mit Mundharmonika. Auf „Saigon Supersound Volume 2“ sind 18 Songs, alle haben Soul, Jazz und Funk intus, aber eine traditionelle Schlagseite.

Kurator Hagenkötter schwärmt: „Exemplarisch ist die Gruppe Kích động nhạcAVT, sie ist ein Phänomen innerhalb des vietnamesischen Musikkosmos um 1975. Da sie verschiedene Pop- und Folk-Genres von Cải lươngbis Latin in ihren Stücken fusionieren, klingt das oft überdreht.“ Auch aus der Musik tönt es laut und deutlich: Vietnam war damals ein gespaltenes Land (Phương Dung – „Khúc Hát Ân Tình“),GIs heiraten vietnamesische Frauen (Vân Sơn – „Cô Tây Đen“),es geht um die Ausgangssperre (Elvis Phương – „Loan mắt nhung“),aber vor allem die Liebe wird immer wieder thematisiert: Sie ist das Grundnahrungsmittel der Viet­namesen.

Auch heute: Überall im öffentlichen Raum ist Musik zu hören. Häufig als schlechter Mainstream maskiert, oft als billige Version von K-Pop. Über Wochen höre ich den Song „Đừng Như Thói Quen“in Endlosschleife, bis ich am Ende meiner Reise sentimental werde, wenn Anh Quânund Ngọc Duyênin dieser Befindlichkeitsschnulze ihre zur Gewohnheit gewordenen Liebe besingen. Es scheint, als sei diese zwar von außen beeinflusste, aber doch eigenständige und vor allem selbstgemachte Musik – wie sie Hagenkötter in seinen Kompilationen zugänglich macht – verloren.

Längst regieren in Vietnam LED-Kapitalismus, Motorroller dröhnen über die Straßen und aus den Lautsprechern scheppert Dudelfunk. Hagenkötter ist trotzdem optimistisch: „Es gibt in den Großstädten vermehrt Bars, in denen sich junge Leute treffen, um klassisch miteinander zu musizieren. Aber es ist natürlich wie überall, Mainstream regiert und US-Popkultur kommt durch die Hintertür – nee, eigentlich direkt durch den Haupteingang, solange die Songs keine politische Botschaft haben.“

Traditionelle vietnamesische Balladen leben von einer stillen Poesie, die von behutsamen Melodien begleitet werden. Phương Dungetwa versinnbildlicht die Kriegsfolgen anhand einer pinkfarbenen Rose („Những Đồi Hoa Sim“),und ganz im Sinne der Tradition ist ihre kraftvolle Dichtkunst zu politisch und bis heute in Vietnam verboten. Danke für die Befreiung Vietnams, Onkel!

Various Artists: „Saigon Supersound 2“ (Infracom/Indigo)