Das Grollen der Großstadt

Der britische Sound-Artist und Klangforscher Peter Cusack hat mit „Berlin Sonic Places“ ein Buch über Alltagsgeräusche in Berlin geschrieben. Wir haben ihn zum Soundwalk am Alexanderplatz getroffen

Er hört ganz genau hin: Peter Cusack, 2007, in der Gegend rund um Tschernobyl Foto: privat

Von Jens Uthoff

Weltzeituhr, Alexanderplatz, Spätsommer. Ein Stimmengewirr liegt in der Luft, englische, italienische, japanische Wortfetzen zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen. Wind rauscht über den Platz. Dann ertönt ein lautes, langgezogenes Rrrccchhhhhhh. Eine Tram fährt ein. Nun rumst es ordentlich.

„Jetzt hat man den Bass der Straßenbahn gehört, das Rollen der Räder über die Schienen“, sagt Peter Cusack. „Unter den Schienen ist ein Hohlraum, deshalb entsteht dieser dumpfe Nachhall.“ Selbst als die Tram wenige Meter weiter zum Stehen kommt, bleibt ein monotones Surren, das man durchgängig hört. „Das kommt wahrscheinlich von einer Klimaanlage“, vermutet Cusack, „aber dadurch, dass es so windig ist, verschwimmt der Sound. Das macht es schwierig, Gehörtes klar voneinander zu unterschieden.“

Peter Cusack darf man als Experten für Alltagsgeräusche bezeichnen. Der britische Sound-Artist hat ein Buch darüber herausgegeben (und größtenteils selbst geschrieben), wie bestimmte Orte, Plätze, Straßen der Stadt klingen. „Berlin Sonic Places“ heißt es, es ist bereits vor einigen Monaten erschienen, in englischer Sprache.

Toxische Orte

Cusack, der aus London stammt und seit sieben Jahren an der Spree lebt, hat in den Siebzigern am Institut für Sonologie in Den Haag Komposition studiert. Seither forscht er zu urbanen wie zu natürlichen Klang­umgebungen. Er hat toxische und verseuchte Orte wie Tschernobyl und die Ölfelder am Kaspischen Meer auf ihren Sound hin untersucht („Sounds From Dangerous Places“); und bevor sich Cusack, Jahrgang 1948, Berlin vornahm, erforschte er unter anderem den Klang Chicagos, Pekings und Londons.

Gemeinsam mit dem Briten schreite ich über den berlinerischsten aller berlinerischen Plätze: den Alexanderplatz. Hanns Zischler nannte ihn vor einigen Jahren den „Leistenbruch Berlins“, seine Klangumwelt spielte schon in Alfred Döblins Geschichte des Franz Biberkopf von 1929 eine zentrale Rolle. Da griff er das Nervenkostüm der Großstädter an, „rumm rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme (…) Ruller ruller fahren die Elektrischen, Gelbe mit Anhängern, über den holzbelegten Alexanderplatz, Abspringen ist gefährlich“, schrieb Döblin in „Berlin Alexanderplatz“, und auch zu dessen Zeiten rauschte der Wind über den Platz: „Wind gibt es massenhaft am Alex, (…) der pustet zwischen die Häuser rein und auf die Baugruben.“

Wie also klingt dieser Ort und seine Umgebung heute? Welches sind spezifische Berlin-Geräusche?

Sprunghaft ist er, der Sound des Alex. Die Klangumgebung wechselt minütlich: Hier dominiert das Dröhnen der Bahn, da das Plätschern des Brunnens der Völkerfreundschaft. Dann die Gitarre des Straßenmusikers, im nächsten Augenblick ein hereinrauschender Liefer-Lkws. „Sonic Borders“ nennt Cusack das Phänomen, wenn sich der Klang schlagartig ändert.

Die nächste deutlich wahrnehmbare Veränderung tritt ein, als wir das Bahnhofsgebäude betreten. Plötzlich ist da: der Hall der Stimmen, das laute Klackern der Schritte, das Summen der Rolltreppe, der Megafon-Sound der Durchsagen, ein fernes Quietschen der Zugbremsen. Als wir auf der anderen Seite wieder ins Freie treten und zu Füßen des Fernsehturms stehen, wird es ruhiger: die nächste Sonic Border.

„In der Regel achten wir gar nicht darauf, wenn wir von einem Klangbereich in den nächsten treten“, erklärt Cusack. „Nichtsdestotrotz sind diese Geräusche Teile eines Settings, das zu einem bestimmten Ort dazugehört. Wenn wir diese Strecke jeden Tag gehen würden, hätten wir verinnerlicht, dass es zehn Schritte von einer Klangumgebung bis zur nächsten sind.“

All diese Geräusche seien noch recht trivial und gewöhnlich, so Cusack. Das Großstadt­grollen eben. Nun geht es vorbei am Fernsehturm Richtung Neptunbrunnen. Wir hören Vögel, es wird merklich stiller. Berlin gilt trotz mancher lärmbelasteter Areale – zum Beispiel durch Fluglärm – als leise Metropole. Cusack: „Verglichen mit Brüssel oder London ist Berlin eine ruhige Stadt. In London hört man – wrrrrrrrrrrrrhhhooo – dieses allgemeine Brummen, in Brüssel mehr Sirenengeräusche.“

Dadurch, dass die Bauten in Berlin ziemlich flach seien, könne der Lärm meist gut entweichen, erklärt er. Im Buch nennt er noch einen interessanten psychologischen Aspekt: „Berlin hat den Ruf einer grünen Stadt, die voller Parks und Bäume ist und in der einer entspannten Lebensweise vorherrscht – das lässt einen glauben, die Stadt sei ruhiger.“ Ein Placeboeffekt für die Ohren.

Ein weiterer Punkt: Die Kiezstruktur sorge dafür, dass die Lärmbelastung sich nicht zu stark balle. Von einem einheitlichen Sound der Stadt könne man somit kaum sprechen: „Jedes Viertel hat einen anderen klanglichen Charakter. Kreuzkölln ist voller Cafés, in denen sich Leute unterhalten; wenn du dagegen in einer suburbanen Gegend im Westen bist, sind da mehr natürliche und weniger menschliche Geräusche. Und in Prenzlauer Berg gibt es viele Häuser mit der klassischen Hinterhofarchitektur – wenn du drinnen bist, hörst du ganz wenig Verkehr.“

Wir gehen zur Marienkirche. Im Vorbeigehen ruft ein junger Mann mit Flyern in der Hand: „Stadtrundfahrten! Sightseeing-Tour!“ Eine Krähe kreischt. Als wir die Kirche betreten, sagt Cusack: „Sofort ist das Echo meiner Stimme zu hören.“ Er schreitet zwischen die Holzbänke, vorbei an anderen Besuchern und klatscht in die Hände: ein leiser Knall. Cusack will das Echo testen. „Etwa vier, fünf Sekunden“ hallt es nach, stellt er fest. „Die Akustik macht die kleinen Geräusche lauter. Allein das Aufstehen und Sich-wieder-Setzen in einem Gottesdienst ergibt einen gewaltigen Sound. Das ist so beabsichtigt.“

Cusack kam 2011 als Artist in Residence des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Berlin. Damals schlug er vor, die Stadt anhand von Soundwalks zu erforschen – daraus entstand Jahre später das Buch. Aktuell denkt der Brite darüber nach, geführte Touren zu entwickeln und daraus ein weiteres Buch zu machen. Neben dieser Arbeit ist Cusack Musiker: Er spielt seit Jahrzehnten zusammen mit David Toop in der wegweisenden Improv-Band Alterations.

Inzwischen sind wir am S-Bahnhof Hackescher Markt angekommen. Eine Bahn fährt ein. Peter Cusack hebt den Finger, bittet um Aufmerksamkeit: „Die S-Bahn ist definitiv einer von Berlins einzigartigen Klängen. Es gibt keinen anderen Schienenverkehr in der Welt, der wie die Berliner S-Bahn klingt. Die Leute verbinden diesen Sound mit Berlin. Es ist auch mein Lieblingsklang.“

Cusack macht, ganz Geräuschexperte, einen Unterschied zwischen alten und neuen S-Bahn-Waggons aus: „Die älteren Züge waren meiner Meinung nach musikalischer. Die neuen sind das weniger. Vielleicht hat das langfristig eine Auswirkung darauf, wie die Menschen dieses Geräusch empfinden.“ Wie wohl die ganz neue Baureihe klingen wird, die ab 2021 regulär rollen soll?

„Es gibt keinen Schienenverkehr auf der Welt, der wie die Berliner S-Bahn klingt“

Peter Cusack

Apropos Rollen: Auf der Rosenthaler Straße folgt schon das nächste Berlin-typische Geräusch, ein Rollkoffer. „Wenn sie über die Fugen des Bürgersteigs gezogen werden, entsteht ein Rhythmus“, erklärt Cusack. „Im Ostteil der Stadt liegen vielerorts andere Bürgersteigplatten als im Westteil. Deshalb ist der Rhythmus im Osten anders als im Westen.“

Es sind diese Feinheiten des Hörens, die auch „Berlin Sonic Places“ lesenswert machen für jeden, der sich für Klang interessiert. Darüber hinaus kann man das Buch als Plädoyer für mehr städtebauliche und architektonische Achtsamkeit in Bezug auf Sound lesen. Der Nauener Platz in Gesundbrunnen etwa, dem sich der Klangforscher Fritz Schlüter in „Berlin Sonic Places“ widmet, ist einer der ganz wenigen Orte, an dem Städteplaner in Form von Klanginstallationen, Audioringen und Ohrenbänken aktiv die Soundumgebung mitgestaltet haben.

Stille kann so öde sein

Auch wenn Cusack das Ergebnis nicht vollends überzeugt, sei der Ansatz der richtige: „Es wäre gut, wenn Städteplanern und Architekten mehr Interesse daran hätten, spannende Klangumgebungen zu schaffen. Meistens geht es nur um das Einhalten von Lautstärke-Grenzwerten.“ Ruhige Oasen im urbanen Raum zu kreieren sei dabei nicht zwangsläufig das Nonplusultra: „Stille kann auch sehr langweilig sein.“

Cusacks Buch funktioniert als Guide. Eine Karte mit einem vorgezeichneten Soundwalk in Rummelsburg ist dem knapp 100-seitigen Reader beigefügt. Inspiriert zu eigenen Klangtouren wird man vor allem, wenn man dem Herausgeber an unkonventionelle Orte folgt und er etwa den Klängen der Tischtennisplatten der Stadt lauscht oder im brandenburgischen Linum den Gesang der Kraniche aufnimmt.

Einmal hebt Peter Cusack auf dem Rückweg zum Alexanderplatz noch den Finger. Nachdem wir von der Neuen Schönhauser Richtung Dircksenstraße abbiegen, rauscht ein Auto über das Kopfsteinpflaster: „Das Rollen der Reifen über Kopfsteinpflaster – ein Berlin-Sound.“

Wir schreiten zurück zur Weltzeituhr. Die Stimmen, nun in anderen Sprachen, sind etwas deutlicher hörbar. Der Wind ist nun weg.

Peter Cusack:Berlin Sonic Places. A Brief Guide. Wolke Verlag 2017, 96 S., 12 Euro. Peter Csack: „Sounds From dangerous Places“, 2012 (Rer/Broken Silence), Doppel-CD und Buch, ca. 30 Euro