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Ein Weltbild von gestern?

Rudolf Steiners praktische Initiativen, von den Waldorfschulen bis zum biodynamischen Landbau, sind erfolgreich. Sein Weltbild dagegen gilt oft als verschroben. Zu Recht?

Rudolf Steiner: „Wo und wie findet man den Geist?“ Foto: Magdalene Becker/Rudolf Steiner Archiv

Von Wolfgang Müller

Rudolf Steiners Werke können mitunter wie Mitteilungen aus einer anderen Welt wirken. Er spricht von geistigen Mächten im Hintergrund des Weltgeschehens; er sieht im menschlichen Körper nur das erste unter mehreren „Wesensgliedern“, deren weitere nichtmaterieller Art seien; überhaupt sei tiefere Erkenntnis nicht durch äußere Beobachtung, sondern nur „übersinnlich“ möglich.

Das alles wirkt fremd in einer naturwissenschaftlich geprägten Epoche. Steiner-Kenner Heiner Ullrich spricht gar von einer „Rückkehr zum Mythos“. Dabei lebte Steiner, 1861 geboren und im alten Österreich-Ungarn aufgewachsen, in einer Zeit wissenschaftlicher Durchbrüche, von der Entwicklung der Bakteriologie durch Robert Koch bis zu Einsteins Relativitätstheorie. Ging das alles an ihm vorbei?

Nein. Steiner hatte schon als Schüler einen Hang zu den Naturwissenschaften. Nach dem Abitur studierte er an der Technischen Hochschule in Wien, schlug allerdings bald einen anderen Weg ein. Er wurde Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Werken, promovierte in Philosophie. Auch Zeitgenossen wie der Schriftsteller Stefan Zweig registrierten die Weite seiner Interessen: „Es war aufregend ihm zuzuhören, denn seine Bildung war stupend und vor allem gegenüber der unseren, die sich allein auf Literatur beschränkte, großartig vielseitig.“

Tatsächlich verstand sich Steiner als „treuer Bekenner der naturwissenschaftlichen Weltanschauung“. Allerdings war er überzeugt, dass die übliche Form der Naturwissenschaft gleichsam nur die halbe Wirklichkeit erfasse: ihre materielle Seite und ihre formalisierbaren Aspekte, die sich etwa in physikalischen Gesetzen ausdrücken. Keinen Zugang habe sie zur tieferen Dimension der Wirklichkeit, die nichtmateriell sei, „geistig“, wie Steiner es nennt.

Entscheidend dabei: Dieses Geistige liegt in Steiners Verständnis nicht etwa hinter oder über der sichtbaren Welt, „wie eine Dekoration“, sondern es ist ihr Zentrum: „Materie ist nichts anderes als verdichteter Geist.“ In jedem Mineral, in jeder Pflanze, jedem Tier und jedem Menschen zeige sich das Geistige in je eigener Gestalt, „wie eine innere Physiognomie“. Diese zu erfassen sei Aufgabe einer „Geisteswissenschaft“ als Ergänzung zur Naturwissenschaft. Darin lagen ein ungeheurer Anspruch und eine Zumutung. Denn – was ist Geist? Und wie soll dieses Geistige wissenschaftlich zugänglich sein? Im Grunde dreht sich Steiners Lebenswerk um diese beiden Fragen, angefangen mit seiner frühen „Philosophie der Freiheit“ bis zu seinen späteren Vorträgen, von denen einer genau diese Frage aufgriff: „Wo und wie findet man den Geist?“

Steiners Antwort ist indes nichts für Eilige. Sie lautet im Kern: Der Zugang zum Geistigen erfordert persönliche Entwicklung. Denn mit seiner heutigen mentalen Disposition, mit dem Einsatz von Beobachtung und kombinierendem Verstand, könne der Mensch vieles erfassen – aber nicht das Tiefste. Um dieses nicht nur zu ahnen, sondern zu erkennen, müsse der Mensch durchgreifende Veränderungen durchlaufen. Steiner spricht sogar von der Entstehung neuer innerer „Organe“. Durch sie werde die geistige Welt ebenso klar wahrnehmbar wie die sinnliche Welt für Auge und Ohr.

Das ähnelt dem, was spirituelle Lehren seit Urzeiten bis zur heutigen Esoterikszene behaupten. Immer wird dabei zwischen dem gewöhnlichen und einem „höheren“ Bewusstsein unterschieden – mit dubiosen Folgen, wenn angeblich Erleuchtete ihren Jüngern sagen, wo es langgeht. Dergleichen hat Steiner stets zurückgewiesen. „Geisteswissenschaft“ wolle allein die Wege einer inneren Entwicklung aufzeigen, die über die heutigen mentalen Muster hinausführt. Diese Entwicklung selbst müsse jeder Mensch eigenständig gestalten. Anders als in früheren Zeiten, in denen eine Übernahme höherer Einsichten noch berechtigt sein konnte (wie im „Glauben“ der Religionen), verlange unsere Epoche eine autonome und voll bewusste Entwicklung.

Wuchs aber Steiner nicht faktisch doch in die Rolle des großen Meisters hinein, dessen Worte von seinen Anhängern wie Offenbarungen empfangen wurden und werden – trotz seiner Hinweise, dass seine Lehre „nicht die endgültige Wahrheit“ sei? Steiner-Biograf Helmut Zander spricht von der „Janusköpfigkeit seiner Weltanschauung zwischen Freiheitssehnsucht und Autoritätsanspruch“. Entspannter klingt ein Bonmot des Philosophen Peter Sloterdijk: Mit dem zeitlichen Abstand sei man heute „eher bereit, Steiner nicht mehr als Guru zu sehen, sondern als ganz normales Genie“. Steiner also als hyperkreativer Anreger für Pädagogik, Landbau, Kunst und Medizin? Trifft das den Kern?

Die eigentliche Provokation war leiser und tiefer. Sie liegt bis heute darin, dass Steiner sozusagen die gesamte Wirklichkeit anders liest, so als wolle er in der sichtbaren Welt einen verborgenen geistigen Text freilegen. Er sah darin keinen philosophischen Luxus, sondern eine brennende Notwendigkeit. Nur wenn die Menschheit die volle Wirklichkeit in den Blick bekomme, wenn sie auch die Kräfte und Sphären verstehen lerne, die sie heute für belanglos oder nicht vorhanden hält, nur dann könne sie Wege finden, um zerstörerischen Weltentwicklungen zu begegnen. Noch aber beharre die Epoche auf ihren stolzen, oberflächlichen Denkweisen. „Will denn die Menschheit ihren Untergang?“, fragt Steiner 1920, fünf Jahre vor seinem Tod. Offenkundig konnten auch seine Anhänger trotz mancher praktischer Erfolge diesen Kernpunkt ihrer Überzeugung bislang keiner größeren Öffentlichkeit vermitteln: dass die Anthroposophie Antworten auf Fragen gibt, die heute viele bewegen. Und dass die Herausforderung gerade darin liegt, dass diese Antworten recht anders aussehen, als die meisten erwarten.