Der Gesellschaft entfremdet

Seit Jahrhunderten ist Istanbul ihre Heimat. Nun verlassen immer mehr jüdische Menschen die Türkei. Gründe dafür sind Wirtschaft, Bildung und Antisemitismus.

Die Aşkenaz-Synagoge befindet sich in der Nähe des Galata-Turms in Istanbul Foto: Serdar Korucu

Von Serdar Korucu

No mos einmischen en los Angelegenheiten del Regierung“, lautet der Wahlspruch, den man aus der jüdischen Bevölkerung der Türkei häufig hört. Auf Ladino oder Judeospanisch lautet er: „No mos karişiyamos en los meseles del hukumet“. Nicht ohne Grund bewahrt die jüdische Minderheit in der Türkei Distanz zur Politik. Geraten sie nicht selten in den Fokus von politischen Angriffen.

So wie im Juni 2017. Nachdem die israelischen Behörden aus Sicherheitsgründen einen Scanner vor den Eingang der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, einer der Heiligen Stätten des Islam, installiert hatten, zog ein wütender Mob vor die Ahrida-Synagoge in Istanbul. Es waren Mitglieder des sogenannten „Vereins des großen Osmanischen Reiches“. Sie stellten vor dem Eingang zur Synagoge einen Metalldetektor auf und riefen antisemitische Parolen wie: „Nach Vorschrift unserer Religion haben wir ihnen Respekt, Gnade und Toleranz erwiesen. Jetzt aber sagen wir: Es reicht.“

Die Ahrida-Synagoge in Istanbul gehört zu den ältesten Symbolen der jüdischen Bevölkerung im Land. Sie steht in Balat, dem einstigen Judenviertel der Stadt mit Blick auf das Goldene Horn.

Provokationen und Attacken wie der Mob vor der Synagoge sind für die türkischen Juden und Jüdinnen nichts Neues. Im Laufe der Republikgeschichte gab es immer wieder antisemitische Verfolgungen: 1934 das Pogrom von Thrakien, 1942 die vor allem auf Nicht-Muslim*innen angewendete Vermögenssteuer, die Pogrome vom 6. und 7. September 1955, die hauptsächlich gegen die griechische Bevölkerung gerichtet waren, bei denen aber auch armenische und jüdische Menschen verfolgt wurden.

Und schließlich am 6. September 1986 das Massaker in der Neve-Shalom-Synagoge, bei dem palästinensische Terroristen das Gebetshaus überfielen und 25 Gemeindemitglieder ermordeten.

Antisemitismus in der Berichterstattung
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Im Laufe der vergangenen 12 Monate stieg in der Türkei zwei Mal die Suchstatistik nach dem Schlagwort „Jude“. Das erste Mal, als US-Präsident Donald Trump verkündete, die USA würden ihre Botschaft nach Jerusalem verlegen, das zweite Mal, als dieser Schritt vollzogen wurde.

Mois Gabay schreibt für Shalom, die einzige jüdische Zeitung in der Türkei. Seiner Meinung nach häufen sich antisemitische Äußerungen in den sozialen Netzwerken immer dann, wenn Israel auf der politischen Tagesordnung steht. „In einigen Presseorganen ist Antisemitismus mittlerweile zum festen Bestandteil der Berichterstattung geworden“, sagt Gabay.

Laut dem jüngsten Bericht der Hrant-Dink-Stiftung über Hate-Speech vom April 2018 werden in der türkischen Berichterstattung über israelisch-palästinensische Konflikte Juden und Jüdinnen mit Gewalt gleichgesetzt und als Feindbild aufgebaut. Es werde nicht über konkrete Personen oder Institutionen berichtet, stattdessen würden Begriffe wie israelische Regierung oder Streitkräfte allgemein mit jüdischer Identität gleichgesetzt und auf diese Weise die jüdische Bevölkerung in der Türkei zur Zielscheibe gemacht. Zudem würden Juden als „geheime Macht“ lanciert, die hinter Verschwörungen gegen die Türkei stecken, und als „Gefahr für die Türkei“ bezeichnet.

Neben Presse und Fernsehen, so Gabay, sorgten auch antisemitische Äußerungen in den sozialen Medien für Unmut in der Bevölkerung. „Da siehst du, wie deine Mitbürger*innen tatsächlich über dich denken, und fühlst dich der Gesellschaft entfremdet.“

Dennoch denkt Mois Gabay nicht ans Auswandern. Gründe fürs Bleiben sind für ihn vor allem seine Familie, seine Arbeit und seine Liebe zu Istanbul. Auch nehme die türkische Sprache eine wichtige Stellung in seinem Leben ein. „Auf Türkisch kann ich mich am besten ausdrücken. In dieser Sprache bin ich zu Hause.“ Gabay sagt, wer aus der Diaspora nach Israel zurückkehre, sich also der Alija anschließe, sehe die Türkei anders. „Beim Blick von außen zeigt sich ein viel schlimmeres Bild, als wir es von hier aus sehen. Die Leute meinen, wir sollten ihnen so schnell wie möglich folgen.“

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Gabay erklärt, jährlich verliere die jüdische Gemeinschaft in der Türkei rund 200 Mitglieder durch den Tod und weitere 250 durch Auswanderung nach Israel. „Hauptgründe für die Emigration sind zwar die wirtschaftliche Lage und Bildungsmöglichkeiten, um den Kindern eine bessere Zukunft zu sichern. Aber im Unterbewusstsein spielt durchaus auch der ständig zunehmende Antisemitismus eine Rolle“, sagt er.

Doch ist Israel für Emigrant*innen aus der Türkei ein „sicherer Hafen“? Mois Gabays Antwort auf diese Frage ist ein bedingtes Ja. Denn in wirtschaftlicher Hinsicht verspreche Israel kein leichtes Leben. Was es aber versprechen könne, sei Sicherheit in Bezug auf die Identität, die in der Türkei kaum vorhanden sei. „Wer nach Israel geht, kann sich wenigstens sicher sein, dass seine Kinder als Juden aufwachsen, dass ihre Erziehung und Ausbildung dementsprechend verlaufen und der Staat sich um die sozialen Belange kümmert“, sagt er.

Das jüdische Leben in Istanbul schwindet

Die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in der Türkei ist bedroht. Bei der Volkszählung von 1927 hätten, so Gabay, 81.392 jüdische Bürger*innen in der Türkei gelebt. Nach der Gründung des Staates Israel sind viele ausgewandert. Demnach lebten nach der Volkszählung von 1955 nur noch rund 40.000 jüdische Bürger*innen in der Türkei, Mitte der 1980er Jahre ging ihre Zahl sogar auf rund 22.000 zurück.

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Bis vor kurzem habe die jüdische Gemeinde noch rund 18.000 Mitglieder umfasst, täglich werden es weniger. Mois Gabay sieht betrübt in die Zukunft und schätzt, dass die Zahl der jüdischen Bevölkerung in der Türkei noch auf gut 5.000 zurückgehen wird. Das bedrückt ihn. Er fürchtet vor allem, dass mit dem Rückgang der Anzahl der Juden und Jüdinnen in der Türkei auch die Synagogen schließen könnten: „Was wir derzeit erleben, weist darauf hin, dass auch die Synagoge, in der meine Familie ihre Bar-Mizwas gefeiert hat, bald Vergangenheit sein wird. Das macht mich traurig.“

Die Lösung für dieses Problem wäre in Gabays Augen einfach. „Hass-Verbrechen müssten strafrechtlich verfolgt werden. Und die Gesellschaft müsste ein Bewusstsein für Antisemitismus und den Holocaust entwickeln. Diese Themen müssten in die Lehrpläne aufgenommen werden“, sagt er. Doch in der heutigen Türkei, die ständig auf der Suche nach äußeren Feinden ist, sei das kaum umsetzbar.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe