8.000 Quadratmeter
Platz für Protest

Fliegende Bälle, teure Gemälde – und mittendrin ein Jesus aus Treibholz: In der Ausstellung Monumenta in den Leipziger Pittlerwerken trifft bildende Kunst auf Street-Art

Von Eva Müller-Foell

Zuerst ist da ein Baby. Über drei Meter groß, mit riesigem Schädel und ver­schränkten Armen steht es auf einer roten Treppe. Lichtüber­flutet. So wie es die Brauen zusammenzieht und den Kopf nach hinten neigt, muss es unzufrieden sein. Sehr sogar. Gezeugt wurde die Skulptur mit dem Namen „Angry Boy“ von dem slowakischen Künstler Viktor Frešo.

Dieses überdimensionale Baby be­herrscht die Haupthalle, die aufgrund ihrer Architektur – einem Hauptschiff mit zwei Seitenschiffen und dem sakral einfallenden Licht – „Kirche“ genannt wird. Es sei ein Spiel mit dem Maßstab, der für die gesamte Ausstellung gelte, sagt Jan Fiedler. Gemeinsam mit Denis Leo Hegic kuratiert er die Monumenta, die Street-Art mit bildender Kunst vermengt.

Ausgangspunkt für dieses Spiel sind die Räumlichkeiten: die ehemaligen Pittler­werke in Leipzig. Bröckelnde Fabrikhallen, bis 1997 Pro­du­k­tionsstätte für Werk­zeug­maschinen, geben den Maßstab vor, mit dem sich die Monumenta auf 8.000 Qua­dratmetern künstlerisch auseinandersetzt. So monumental wie die Architektur ist laut den Kuratoren auch der Leitspruch „Intelligence of many“, der das Gerüst der Ausstellung bildet. „Die Intelligenz von vielen soll den Ideen entgegengesetzt werden, die von Politikern wie Trump oder den rechtspopulistischen Bewe­gungen in Europa verbreitet werden“, erklärt Denis Leo Hegic.

Es braucht also bessere Utopien für die Zukunft. Und aus diesem Gedanken heraus ist auch die Installation „Monument-of-many“ entstanden, die sich in den Seitenschiffen der „Kirche“ befindet.

Es ist eine Installation aus hundert Gasbetonblöcken, die von hundert jungen Künstlern mit derselben Ausgangsfrage bearbeitet wurden: Was sind deine Utopien einer Stadt der Zukunft? Entstanden ist ein bunter Gegenentwurf zu den aktuellen politischen Vorschlägen, von denen so viele aus grauer Vorzeit zu stammen scheinen.

„The future!? Außer Betrieb!“ warnt deshalb ein bemalter Betonblock. „Ohne Visionen gibt es keine Zukunft“, sagt Denis Leo Hegic, während er durch die „Kirche“ führt. Ihm geht die gegenwärtige grundlose Unzufriedenheit in der Gesellschaft gegen den Strich. „Warum wache ich nicht auf und sage, toll, ich bin gesund?“, fragt er, während er neben einer riesigen Marx- und Engels-Skulptur des Berliner Künstlerduos „Various & Gould“ steht. Die Figuren sind aus Pappmaché. Das Monumentale der beiden Philosophen wird dadurch relativiert.

So monumental wie die Architektur ist laut den Kuratoren auch der Leitspruch: „Intelligence of many“

Neben unzähligen Sprühdosen, Holzplatten und Farben, die von lokalen Sponsoren gestellt wurden, benötigten die Künstler auch einen alten Passat. Das Kollektiv „Rocco und seine Brüder“, das sonst auf der Straße agiert, entwickelte für die Monumenta die Installation „Dezernat 52“. Da steckt ein Polizeiwagen, eben dieser Passat, im Fenster eines Büroraums, der als „LKA 5 Dezernat 52“ betitelt ist – in Berlin kümmert sich dieses Dezernat um politisch links motivierte Kriminalität. Das Glas ist zersprungen. Auf dem Schreibtisch liegt die Bild-Zeitung.

Mit der Polizei geht es auch im sogenannten „Maschinenraum“ weiter. Dort hat der Street-Artist Señor Schnu die Installation „Monument des Freund und Helfers“ angefertigt. Zu sehen sind zwei Polizisten mit Helm und Schutzkleidung, die einen Zivilisten in grünem Kapuzenpulli zu Boden drücken. Daneben hängen seelenruhig Kunstwerke der Malerei und Fotografie an den Wänden. Ein harmo­nischer Widerspruch, der bezeichnend ist für die gesamte Monumenta. So fordert die Installation „Play with Art“ die Besucher regelrecht zum Anfassen auf. „Hundert bemalte Körbe und Bälle wollen, dass man mit ihnen spielt. Somit wird Kunst fühlbar und hörbar zugleich“, sagt Denis Leo Hegic und greift nach einem Ball.

Bälle fliegen hörbar in Körbe, nicht weit davon sitzt stillschweigend ein Jesus aus Treibholz in einem Sessel, Kalligrafie und Graffiti verschmelzen zu Calligraffiti, Musik und ein Film über Martha Cooper, die vierzig Jahre lang Street-Art dokumentierte, laufen in Einklang in einem Extraraum.

Der Abschluss der Monumenta bildet die Halle der „Goldgerahmten“. Kein einziges der ausgestellten Kunstwerke steckt in einem goldenen Rahmen. Nur die Signaturen der Künstler wurden in unterschiedliche Flohmarktrahmen an weiße Stellwände gehängt. Eine klassische Galeriesituation erscheint plötzlich befremdlich vor der Fassade des bröckelnden Indus­triebaus.

Bedeutungsschwere Blumen

In den Pittlerwerken sieht man Kunst im Großformat – etwa die Skulptur „Angry Boy“ von Viktor Frešo (rechts) Foto: Nik Afanasjew

Befremdlich, aber gut verträglich wirken die Werke wie „Quadrate ohrfeigen“ des deutschen Malers Hans Peter Adamski, der teilweise mehrere Jahre an einem Gemälde sitzt, gegenüber dem sekundenschnell gesprayten Werk der Berliner Graffiti-Gruppe „1 Up“.

Eine Woche saß die argentinische Street-Art-Künstlerin Marina Zumi an „View Insight“. Es ist eines der letzten Bilder der Ausstellung und nimmt das Spiel mit dem Maßstab wieder auf. Eine Pusteblume, fast so groß wie das Universum hinter ihr, macht Marina Zumi bedeutungs­schwer. „Das, was bei der Blume weggepustet werden kann, habe ich angenäht“, sagt Zumi und zeigt als Beweis die Rückseite der Leinwand.

Bis zum 13. Oktober wird die Monumenta in den Pittlerwerken laufen. Nur der Schnee auf dem Dach wird vermutlich noch länger bleiben: Da hat sich „Snow“, ein berüchtigter Sprayer aus Leipzig, mit weißer Farbe ver­ewigt. Zu sehen nur per Drohnenshot.

Ausstellung Do.–So. ab 12 Uhr,

letzter Einlass zur Ausstellung: 21 Uhr. Dazu Fr./Sa. 22–6 Uhr Musikveranstaltungen im Klub