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„Das hat meiner Seele gutgetan“

Professionelle Anleitung, starker Zuspruch: Beim Bürgertheater stehen Laien auf Theaterbühnen. Vorreiter war das Staatsschauspielhaus Dresden

Beim Tanz­theaterstück „Heimathafen“ standen 110 Laien auf der Bühne des Braunschweiger Staats­theaters Foto: Bettina Stoess/Staatstheater Braunschweig

Von Joachm Göres

„Heimat war für mich, vom Baum runterzuspringen und in die Arme meiner Mutter zu laufen.“ Ein Satz aus dem Tanztheaterstück „Heimathafen“, bei dem im Juni 110 Laien im Großen Haus des Braunschweiger Staatstheaters auf der Bühne standen. Ein Satz des 79-Jährigen Klaus Rathgen, der seine Gedanken zum Thema Heimat vor Publikum in Bewegung umsetzt: Er fällt häufiger hin, und ihm wird von Mittänzern wieder aufgeholfen. „Das Spielen ist mental und körperlich anstrengend, ich muss mich konzentrieren, um präzise zu reagieren und die Einsätze einzuhalten. Und doch war die Zeit der Proben sehr positiv, und die Gruppe wurde so auch zur Heimat“, sagt Rathgen, der meist mit einem Dutzend Mitspielern auf der Bühne aufeinander abgestimmte Tanzbewegungen zeigt. Fünf Wochen, jeweils von montags bis freitags drei Stunden, dauerten die Proben. Vor Publikum hatte Rathgen vorher noch nie getanzt.

„Es ist keine Tanzerfahrung nötig, es gibt kein Casting, jeder kann mitmachen“, sagt Gregor Zöllig, unter dessen Leitung 15 professionelle Choreografen und Tänzerinnen das Stück zusammen mit den Laien zwischen 8 und 80 Jahren entwickelten. Die zentrale Frage dabei: Was ist Heimat, wie kann man das tänzerisch darstellen? Die Hände strecken, drehen und dehnen, im Raum durcheinanderlaufen, sich anschauen und auf eine Bewegung des Gegenübers reagieren, sich auf sich selber besinnen, Stille zulassen, den Atem spüren – einige der Übungen, die dazu beitragen sollen, seinen Körper auszudrücken. „Wer das nicht kennt, muss Grenzen überwinden. Bei den meisten geht das sehr schnell, und es entstehen wunderschöne Momente“, sagt der Chefchoreograf, der vor drei Jahren am Staatstheater Braunschweig ein Tanztheaterstück erstmals mit Laien einstudierte.

Vorreiter des sogenannten partizipativen Theatern ist das Staatsschauspiel Dresden, wo der damalige Intendant Wilfried Schulz mit seinem Amtsantritt 2009 die Bürgerbühne ins Leben rief – seitdem standen mehr als 2.000 Dresdner auf der Bühne. Dabei gilt der Grundsatz von Schulz: „Wie jede andere Sprechtheaterinszenierung auch“ – hauptberufliche Regisseure, Dramaturgen und Produktionsleiter arbeiten mit den Hobbyschauspielern. Oft fehlt eine fertige Vorlage, vielmehr wird der Text zusammen mit den Profis erarbeitet – etwa für das Stück „Weiße Flecken“ zum Thema Demenz oder von Fußballfans für „Dynaaamo“. Zu den Infotreffen kommen bis zu 120 Menschen, zu den Auswahlworkshops sind es dann immer noch bis zu 80 Personen.

„Wir erreichen damit Junge und Alte, Männer und Frauen, Rentner, Erwerbslose und Berufstätige“, sagt David Brückel, stellvertretender Leiter der Bürgerbühne Dresden. Wer auf den Geschmack gekommen sei, der könne das trotz seines Jobs schaffen. „Dass jemand während der wöchentlich mindestens drei Proben oder nach der ersten Aufführung aufgibt, weil er sich zeitlich übernommen hat, kommt sehr selten vor.“

Jedes Stück steht im regulären Theaterprogramm und wird durchschnittlich 15-mal gespielt, pro Aufführung gibt es für die Laien eine Aufwandsentschädigung. Pro Spielzeit werden die rund 150 Vorstellungen der Bürgerbühne von mehr als 17.000 Zuschauern besucht, die Auslastung ist mit 85 Prozent besser als bei den übrigen Aufführungen. In der neuen Saison wendet man sich an blinde und sehbehinderte Menschen, an muslimische Frauen und an Bürger aus Freital, um mit ihnen themenspezifische Stücke zu erarbeiten. Dabei gilt der Grundsatz: Konflikte austragen, Widersprüche aushalten.

Das Ganze passiert nicht ohne Hintergedanken: Die Hälfte der Bürgerbühnen-Darsteller war in den letzten zehn Jahren nicht mehr im Theater. Wer selber spielt, bringt im Schnitt 25 Bekannte zu seiner eigenen Vorstellung mit und geht sechsmal so häufig ins Theater wie zuvor. Doch verdirbt man es sich nicht gleichzeitig mit Bewerbern, die bei einem Auswahlworkshop keine Chance für einen Auftritt bekommen? Brückel: „Enttäuschungen sind nicht zu vermeiden, aber ganz häufig kommen diese Personen wieder und haben bei einem anderen Stück Erfolg. Außerdem bieten wir ja noch die Spielclubs an, die auch sehr wichtig sind.“ Sie stehen jeweils unter einem Motto wie zum Beispiel der Club der post-ostalgischen Bürger (für Menschen von 35 bis 50) oder der Club der anders begabten Bürger (von 19 bis 99). Einmal pro Woche trifft man sich unter professioneller Anleitung, und am Ende der Spielzeit zeigt die Gruppe vor Publikum eine Werkstattaufführung.

Zahlreiche Theater bieten in der neuen Spielzeit 2018/19 Theaterprojekte für erwachsene Laien unter professioneller Betreuung an. Am Staatsschauspiel Dresden findet am 28. 8. ein erstes Infotreffen für Interessierte an den verschiedenen Clubs der Bürgerbühne statt. Die Produktion „Bilder ohne Lila“ feiert dann am 14. 9. in Dresden Premiere. Ähnliche Laienspielclubs gibt es außer an den bereits erwähnten Theatern u. a. an der Landesbühne Tübingen, am Nationaltheater Mannheim, am Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken, am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Theater an der Ruhr, Mülheim, am Deutschen Theater Berlin, am Theater Gütersloh und am Theater der Stadt Aalen. Auch freie Theater wie Kampnagel in Hamburg oder Fräulein Wunder machen ähnliche Angebote.

Im Mai 2019 findet schließlich in Dresden das 4. Europäische Bürgerbühnenfestival statt.

„Partizipatives Theater nicht nur für Jugendliche gibt es mittlerweile an sehr vielen großen Häusern. Einige richten sich an bestimmte Gruppen, die Konzepte sind sehr unterschiedlich“, sagt Beata Anna Schmutz, Leiterin des Volkstheaters am Staatstheater Karlsruhe und Sprecherin der AG Bürgerbühnen des Deutschen Bühnenvereins.

Auch kleinere Schauspielhäuser versuchen, Erwachsene für das Theaterspielen zu begeistern. Ute Passarge stand in der abgelaufenen Saison erstmals vor Publikum auf der Bühne, in der Produktion „Wie geht – leben“ des Schlosstheaters Celle. Das Stück über eine Wohngemeinschaft von Jung und Alt haben 14 Laienspieler von 8 bis 80 Jahren unter Anleitung von Schauspielern und Theaterpädagogen entwickelt und aufgeführt. „Wir haben anfangs viele Bewegungsspiele gemacht, improvisiert und gelernt, auf die Aktion des anderen zu achten. Das fand ich klasse, denn dabei zählt der Gemeinschaftsgedanke, ganz anders als sonst üblich“, sagt die 55-jährige gelernte Dolmetscherin, die für einen Verein arbeitet, der Straftäter betreut.

9 Monate lang einmal die Woche Theatergruppentreffen, 3 Probenwochenenden, vor der Aufführung 4 Tage Intensivproben: Passarge ist froh, dass sie diese zeitliche Belastung auf sich genommen hat: „Das hat einen Heidenspaß gemacht.“ Bei einer Übung sollte sie auf Zuruf einen Orkawal imitieren. „Ich habe mich spontan auf den Fußboden geschmissen und Grunzlaute von mir gegeben. Danach ist einem nichts mehr peinlich.“ Wo sonst könne man sich „als ­Erwachsener in so einer ­tollen Atmosphäre“ ausprobieren?“ Vier ausverkaufte Vorstellungen mit viel Beifall sind zusätz­licher Lohn: „Die Leute gehen mit, ­lachen, reagieren positiv. Das hat meiner Seele ­gutgetan.“