Buch über „Rotenburger Anstalten“: Vom Horror der totalen Institution

„Wegweisend“ sei die Aufarbeitung der Einrichtung für Menschen mit Behinderungen, sagen die AutorInnen. Am vergangenen Donnerstag trafen sie sich mit Betroffenen.

Heute ist es offen und für jedermann durchlässig, früher trennte es „Drinnen“ und „Draußen“: das grüne Tor der Rotenburger Werke Foto: Rotenburger Werke

Neun Jahre alt war Uwe Seebode, als er in die „Rotenburger Anstalten“ kam. Was er dort von 1970 bis 1975 erleben musste, hat ihn traumatisiert: Schläge, „Schlüpferkon­trolle“ und andere Demütigungen, sexuelle Übergriffe. „So etwas darf nie wieder passieren“, sagte er am vergangenen Donnerstag. Die heutigen „Rotenburger Werke“ boten an diesem Abend jenen ein Podium, die jahrzehntelang nicht gehört worden waren: Den Opfern der „totalen Institution“.

Dieser Begriff ist Dreh- und Angelpunkt des im Juni erschienenen Buchs „Hinter dem grünen Tor – Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, 1945–1975“. Die fast 400 Seiten starke Studie von Karsten Wilke, Hans-Walter Schmuhl, Sylvia Wagner und Ulrike Winkler fasst die Ergebnisse von zwei Jahren Forschung in den Archiven der Werke und des Diakonissen-Mutterhauses, von Pharmaunternehmen und des Stadtarchivs sowie von Interviews mit Zeitzeugen zusammen.

Neben Thorsten Tillner, dem Geschäftsführer der Rotenburger Werke, Claudia Schröder vom niedersächsischen Sozialministerium und eben den Betroffenen standen auch die AutorInnen am Donnerstag den 130 ZuhörerInnen, darunter zahlreichen BewohnerInnen, Rede und Antwort zur finsteren Nachkriegsgeschichte der evangelischen Einrichtung, in der heute rund 1.100 Kinder und Erwachsene mit Behinderungen leben.

Die „Anstalten“ hatten sich eigentlich dem Wohl ihrer BewohnerInnen verpflichtet. „Aber in einer totalen Institution verschiebt sich der Zweck einer Einrichtung“, sagte Schmuhl, Historiker und stellvertretender Leiter für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. „Es geht nur noch darum, dass der Betrieb reibungslos läuft. Die Bewohner sind bloß noch ein Rädchen im Getriebe.“

Wie es in Rotenburg zu dieser Verschiebung kommen konnte, beleuchtet die Studie intensiv, wobei ein wesentlicher Punkt die Nicht-Aufarbeitung der eigenen Mitwirkung an Zwangssterilisationen und der sogenannten „Euthanasie“ in der NS-Zeit war. Der Historiker Karsten Wilke über einen Beitrag anlässlich des „Schwesterntags“ im Jahr 1946: „Anstatt kritikwürdige Handlungen im Kontext der Rotenburger Anstalten auf den Prüfstand zu stellen, befasste sich der Beitrag insbesondere mit den staatlichen Übergriffen auf die Kirche. (…) Die Ausführungen stilisieren die protestantischen Kirchen insgesamt zu einem Opfer des Nationalsozialismus und verorten sie in der Nähe des Widerstands.“

Hinzu kamen die Voraussetzungen, unter denen die Anstalten nach dem Krieg arbeiten mussten: „Denkbar schlecht“ seien die gewesen, schreibt Wilke. Große Anstaltsteile wurden bis 1949 als Lazarett von den Briten benutzt, Restitutionszahlungen leisteten sie dafür nicht. Der Zustand war nach der Freigabe so schlecht, dass die Räume nicht ohne Weiteres wieder als „Anstalt“ genutzt werden konnten. Geld für Sanierungen fehlte. Eklatanter Personalmangel führte dazu, eine große Anzahl „freier“ Pflegekräfte einzustellen, die weder der Kirche nahestanden noch qualifiziert waren.

An Händen und Füßen festgebunden

Diese Voraussetzungen bildeten den Nährboden für das, was – nicht nur – in Rotenburg bitterer Alltag war: „Im Bett war man an Händen und Füßen festgebunden“, berichtet Seebode, der seit mittlerweile 30 Jahren alleine lebt. „Wenn man aufs Klo musste, hat man die Nachtschwester gerufen, aber die war ja nicht immer da. Also ging das daneben und dafür wurde man verprügelt.“

Klaus Brünjes arbeitet heute in den Rotenburger Werken. Er kam Mitte der sechziger Jahre als Fünfjähriger in die „Anstalt“ – als sogenannter „Krüppel“, weil er gehbehindert ist. Er selbst, berichtet er, habe sich untergeordnet und sei so einigermaßen ungeschoren geblieben, aber Kollektivstrafen, die als „pädagogische“ Maßnahmen an der Tagesordnung gewesen seien, habe auch er am eigenen Leibe erfahren: „Das hat auch zu Hass und Gewalt untereinander geführt.“ Und: Erst 1977 habe er zum ersten Mal in einem eigenen Zimmer geschlafen, nicht in einem Schlafsaal: „Das war wie Weihnachten und Ostern zusammen.“

Individuen darf es in einer „totalen Institution“ nicht geben. Das manifestierte sich in Rotenburg auch in der räumlichen Gestaltung: „Stellen Sie sich einen Raum vor, dessen Wände bis auf eine Höhe von 1, 85 Meter weiß gekachelt sind und der einen leicht wischbaren Boden hat. Viele Betten. Jeglicher Wandschmuck ist verboten. Darin haben Menschen teils Jahrzehnte lang gewohnt“, schilderte die Politik- und Erziehungswissenschaftlerin Ulrike Winkler die Lebensumstände in den Anstalten.

Die Leute „draußen“, erzählt der ehemalige Bewohner Brünjes, hätten Geschichten über Gewalt in den Anstalten nicht geglaubt: „Die haben immer gesagt: Die von der Diakonie machen sowas nicht.“ Draußen: Das war die Stadt Rotenburg, die durch das für das Buch titelgebende „grüne Tor“ vom Anstaltsgelände getrennt war. Das Tor war verschlossen, was dahinter vor sich ging, weitestgehend unbekannt – von beiden Seiten aus betrachtet. Erst ab Mitte der siebziger Jahre öffnete es sich langsam. Heute ist das grüne Tor noch da, aber stets offen und durchlässig für Fußgänger, Radfahrer und Autos. Jeder kann hinein, jeder kann hinaus.

Die Leute „draußen“, erzählt der ehemalige Bewohner Klaus Brünjes, hätten die Geschichten über die Gewalt nicht geglaubt

Die Entmenschlichung der „Insassen“ spiegelte sich auch in der Medikamentenvergabe wider. Dieser Praxis hat die Pharmazeutin Sylvia Wagner das letzte Kapitel des Buches gewidmet. Wagner hatte bereits 2017 recherchiert, dass in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf bis Mitte der siebziger Jahre Medikamententests durchgeführt wurden – Gleiches fand sie auch für die Rotenburger Anstalten heraus.

Medikamente wurden dort psychotherapeutischen Maßnahmen vorgezogen. Nicht die Ursachen für „störendes“ Verhalten wurden behandelt, sondern ausschließlich Symptome – mit Medikamentenmengen, die regelhaft selbst die Höchstdosis für Erwachsene überschritten.

Hirn-OP mit Einverständnis der Eltern

Hatte deren Vergabe nicht die erwünschte Wirkung, wurden Kinder sogar operiert: Mindestens drei Jungen, schreibt Wagner, seien im Jahr 1972 sogenannten „stereotaktischen Hirnoperationen“ unterzogen worden. Dabei wurde Hirngewebe gezielt zerstört – eine Maßnahme, die mit zahllosen lebenseinschränkenden Nebenwirkungen verbunden war und nicht selten zum Tode führte. Fritz Stöckmann, von 1960 bis 1974 Leitender Chefarzt der Anstalten, verglich sie gegenüber dem Jugendamt Göttingen mit einer Blinddarmoperation – und bekam so von diesem die Einwilligung für die Hirn-OP an einem seiner Mündel. Auch Eltern erteilten Einverständniserklärungen für OPs.

„Ab den sechziger Jahren wurden die Akten sehr gründlich geführt, alles ist gut archiviert“, sagt Wagner. Deswegen fiel ihr auch auf, dass sowohl für die OPs als auch für Ausflüge oder Ferienfreizeiten Einverständiserklärungen der Eltern oder Vormünder vorlagen – nicht aber für Medikamenten-Versuchsreihen, wie sie in Rotenburg ebenfalls durchgeführt wurden: Mit noch nicht zugelassenen Präparaten, um den Sexualtrieb zu dämmen oder das Bettnässen zu stoppen. In einem Falle konnte Wagner nachweisen, das Stöckmann von einem Pharmaunternehmen Geld dafür bekam.

An viele der Geschehnisse konnte sich ein guter Teil der ZuhörerInnen erinnern: An den „Kollerraum“, in den Kinder gesperrt wurden, wenn sie aufmüpfig waren, an die Gewalt, an die Schlafsäle, die Ausgangsscheine. Medikamententests und Hirn-OPs sind Dinge, die verborgener stattfanden: Hörbar geschockt reagierten ehemalige BewohnerInnen und noch immer in den Rotenburger Werken Lebende auf die Schilderungen Wagners.

Dabei sind die Rotenburger Werke vorbildlich in der Aufarbeitung ihrer Geschichte; bereits 1990 erschien erstmalig eine Dokumentation über die eigene Beteiligung an der „Euthanasie“ in der NS-Zeit. Sylvia Wagner sagt: „Ich konnte hier zum ersten Mal direkt in einer Einrichtung forschen“ und nennt die Werke „in der Aufarbeitung wegweisend“.

Das Buch, sagte Thorsten Tillner, soll auch als Fundament dienen für all jene, die Entschädigungen über die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ beantragen wollten. Uwe Seebode hat das bereits getan, „aber es macht die Sache natürlich nicht wieder gut“, sagt er.“ Das wird nie wieder gut.“

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