Vom Proto-Staat zum Terrornetz

Bis zu 30.000 IS-Kämpfer sollen sich in Syrien und Irak aufhalten. Doch die Zahl könnte übertrieben sein

Von Jannis Hagmann

Trotz schwerer Niederlagen könnten sich noch 20.000 bis 30.000 IS-Kämpfer in Syrien und Irak aufhalten. Das geht aus einem Bericht hervor, den eine Expertengruppe dem UN-Sicherheitsrat in der Nacht zu Dienstag vorlegte. Die Kämpfer seien zu etwa gleichen Teilen auf Syrien und Irak verteilt.

Obwohl die Terrormiliz weitgehend als besiegt gilt, sei sie weiterhin funktionsfähig. „Der IS wandelt sich (…) von einem Proto-Staat hin zu einem terroristischen Netzwerk“, heißt es in dem Bericht. Die US-Administration hatte den IS, der 2014 ein selbst erklärtes Kalifat in Teilen Iraks und Syriens ausgerufen hatte, als „komplett zerstört“ bezeichnet. Zuvor hatte bereits der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi den IS für besiegt erklärt.

Man müsse damit rechnen, heißt es in dem Bericht, dass in beiden Ländern ein „geheimer Kern“ des IS überdauern werde. In Syrien kontrolliere er noch immer kleine Abschnitte im Osten des Landes. Zudem kehrten weniger Kämpfer in ihre Herkunftsländer zurück als angenommen. Unter IS-Anhängern in beiden Ländern seien „Tausende aktive ausländische Terrorkämpfer“. Teilweise versteckten sich die Kämpfer „in ihnen wohlgesinnten Gemeinden und urbanen Gebieten“.

Die Informationen in dem knapp 30-seitigen Bericht stammen fast ausschließlich von UN-Mitgliedstaaten, fußen also auf Informationen der Regierungen und ihrer Geheimdienste. Welche Regierungen Zahlen übermittelt haben und worauf diese basieren, wird nicht offengelegt.

„Die Zahl von bis zu 30.000 Kämpfern scheint mir zu hoch gegriffen“, sagt Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, die die Bundesregierung berät. Er geht davon aus, dass die Herkunftsländer der IS-Kämpfer einfach diejenigen gezählt haben, die ausgereist sind und deren Schicksal ungeklärt ist. „Mit der Situation im Irak und Syrien haben die Zahlen wenig zu tun.“ Steinberg geht von lediglich 2.000 aktiven Kämpfern in Syrien aus. Im Irak bewege sich die Kämpferzahl „im niedrigen vierstelligen Bereich“.

Dem UN-Bericht zufolge stellen die verbliebenen Kämpfer nicht nur in Syrien und Irak eine Gefahr dar. In Libyen und Afghanistan hielten sich noch mehrere tausend IS-Kämpfer auf. Auch in Südostasien und Westafrika habe der IS viele Unterstützer. Im Jemen zähle der IS einige hundert Kämpfer. Dort sei zudem das Terrornetzwerk al-Qaida weiter aktiv und mit bis zu 7.000 Kämpfern sogar stärker als der IS. Ähnliches gelte für Somalia sowie für Teile Westafrikas. „Einige Mitgliedstaaten sehen al-Qaida langfristig als größere Bedrohung für die internationale Sicherheit als den IS“, schreiben die Autoren des Berichts.

Unklarheit herrsche über die Finanzen des IS. Nach Informationen der Verfasser habe die Organisation erneut Fuß fassen können im Handel mit Öl. Auch hätten einige Mitglieder es geschafft, Unternehmen etwa im Bau- und Immobiliensektor, der Landwirtschaft oder im Fischereiwesen zu infiltrieren. Was die finanziellen Möglichkeiten des IS angehe, stellen die Autoren jedoch eine Informationslücke fest.

Für Steinberg stellt sich vor allem die Frage, wo jene IS-Kämpfer geblieben sind, deren Schicksal ungeklärt ist. „Viele befinden sich in syrisch-kurdischer, irakisch-kurdischer, irakischer und jordanischer Haft“, sagt er. Tausende oder Zehntausende seien aber verschollen. Viele könnten in die Türkei geflüchtet sein, vermutet Steinberg. Die syrisch-türkische Grenze ist teilweise durchlässig. „Darin liegt das größte Problem für die europäischen Sicherheitsbehörden, deren Zusammenarbeit mit ihren türkischen Kollegen schon seit Jahren nur noch in Ausnahmefällen funktioniert.“