Annabelle Hirsch
Air de Paris
: Eine Stadt ganz kontemplativ, ohne definierte Zeitzone

Wer sich dieser Tage in Paris aufhält und wohlgemerkt Pariser ist, der hat, so würden es die meisten Einheimischen sagen, ein Problem. Der muss sich entweder vorgenommen haben, den Sommermonat zu nutzen, um endlich diese Doktorarbeit, die einfach nicht fertig werden will, abzuschließen. Oder aber, er muss in einer finanziellen oder mindestens existenziellen Krise stecken. Vielleicht hatte er aber auch die gnadenlos schlechte Idee, seine schon länger humpelnde Beziehung mitten im Juli zu beenden, womit er alle so schön ausgemalten Sommerpläne und Einladungen hat platzen lassen, nur um nun einsam und verlassen durch die Straßen der Hauptstadt zu streifen.

Der einzig halbwegs akzeptierte, nicht mit einem totalen Kontrollverlust über das Leben assoziierte Grund, den August in Paris zu verbringen, ist entweder ein Umzug oder eine nahende Geburt. Alle anderen Szenarien, die sich Pariser rund um Pariser, die den Sommer in ihrer Stadt verbringen, ausdenken, sind deprimierend, ja sogar nahezu apokalyptisch. Man muss verrückt oder sehr arm dran sein, um nicht ab 14. Juli seine Sachen zu packen und gen Süden zu flüchten, an die Riviera, nach Korsika oder Griechenland, so denken das die meisten. Dabei ist der August der schönste Paris-Monat überhaupt.

Wo man sonst auf Schritt und Tritt von einer dichten Geräuschwolke aus hupenden Autos, sich anschreienden Menschen, knatternden Motorrollern begleitet wird, läuft man im August durch die entspannte Geräuschkulisse einer Kleinstadt. Man muss, während man durch die Straßen läuft, auch nicht rennen, aus Angst, der eilige Fußgänger hinter einem trample sonst einfach über einen drüber, und auch nicht auf die Straße ausweichen, weil die engen Trottoirs maximal eine relativ ­schmale Person pro Laufrichtung dulden. Selbst auf den Terrassen der Cafés darf man in diesem Monat einen, ja manchmal sogar, mon dieu, mehrere Sitze neben sich frei lassen, statt sich wie sonst wie ein Hühnchen auf der Stange an die fremden Menschen neben sich zu pressen. In diesen paar Wochen zwischen Ende Juli und Anfang August darf man ausnahmsweise einmal ganz viel Platz einnehmen, einfach weil es ihn für die kurze Zeit gibt.

Schon ab der dritten Juli-Woche scheint es, als erlebe man eine weniger gruselige als erfreuliche Version von „The Leftovers“: Auf der Straße fehlen plötzlich ziemlich viele Leute, mit jedem Tag ein paar mehr. Freunde antworten einem nur noch mit „Bin schon weg. ­Bonnes vacances! Wir sehen uns zur rentrée!“, die wenigen Übriggebliebenen treffen sich quasi täglich, wie die letzten Überlebenden einer großen Katastrophe, und erzählen sich gegenseitig davon, was sie tun werden, wenn auch sie endlich abhauen dürfen.

Danach, ab der ersten Augustwoche, läuft dann alles in Slow Motion. Paris ist plötzlich ganz still und gehört einem quasi alleine. Es ist ein bisschen so, als dürfe man ein paar Wochen lang Tag und Nacht allein durch ein besonders tolles Museum laufen, durch das Metropolitan-Museum oder den Louvre. Ohne die Massen, ohne das Geschrei, ohne die Wichtigtuer, die sich vor jedem Bild aufplustern und mit ihrem Wissen um sich werfen. Sogar das Personal ist dann viel netter. Natürlich ist Paris kein Museum, zumindest ist es das immer weniger, trotzdem hat der August dort etwas von dieser kontemplativen Qualität. Einfach weil die Straßen, die Gebäude, die Parks nicht mehr so sehr von der Gegenwart und dem Alltag überzogen werden, sondern wieder Geschichten erzählen. Solche, die mit dem Paris des 21. Jahrhundert, das viele Menschen besuchen, um fesch kostümiert auf Fashion Weeks rumzustehen, Champagner zu trinken und ganz viel zu shoppen, wenig zu tun haben. Es ist dann mehr eine Stadt ohne definierte Zeitzone, in der jeder, je nach persönlicher Nostalgie, seinen Geistern folgen kann. Ganz genau so wie bei Woody Allen. Ein unbeschriebenes Blatt, auf das jeder seine Fantasien projizieren kann. In diesem Sinne haben die Pariser Unrecht: Auch jene, die bleiben, flüchten. Nur brauchen sie dafür keinen Ortswechsel.

Annabelle Hirsch ist freie Autorin in Paris.