Gesang als Energiequelle

Flanieren, wo geheizt wurde: Die Kathedralen der Industrie schindeten leer schon immer den größten Eindruck. Am Sonntag wurde das Kraftwerk Mitte mit Chormusik gefüllt

Mit „Stimmen im Kraftwerk“ konnte am Sonntag die alte Industriearchitektur erkundet werden Foto: Christian Mang

Von Lorina Speder

„Das Kraftwerk ist der schönste Raum Berlins“, sagt Heiner Mühlenbrock. Der Filmemacher und Drehbuchautor kannte die Innenräume des ehemaligen Heizkraftwerks für Berlin-Mitte schon lange, bevor sie der Öffentlichkeit durch seinen Kulturkollegen Dimitri Hegemann vorgestellt wurden. Dieser hatte den verlassenen Industriebau aus der Zeit des Mauerbaus Anfang der 00er Jahren von Vattenfall angemietet und 2006 seinen Technoclub Tresor in einen Teil des Gebäudes einquartiert. In der leerstehenden, mehrstöckigen Turbinenhalle finden seit acht Jahren regelmäßig Ausstellungen, Konzerte und Festivals wie Berlin Atonal oder Messen statt.

Während Ausstellungen fiel Mühlenbrock auf, dass das Publikum seltener die Kunst, aber immer wieder die Räume an sich faszinierend fand. „Man sollte das Kraftwerk leer entdecken“, dachte er sich und überzeugte Hegemann, die Veranstaltungsreihe „Menschen am Sonntag“ einzubeziehen, die am Sonntag in die zweite Runde ging. Dieses Mal lautete das Motto „Stimmen im Kraftwerk Berlin“. Zusammen mit Johannes Dasch als musikalischen Leiter lud Mühlenbrock sieben Chöre ein, die von mittags bis in die frühen Abendstunden ihre Stimmen aufsteigen ließen zwischen den hohen Pfeilern aus Beton. Das Konzept der leeren Räume und fast stündlicher Chormusik überzeugte nicht nur die rund 4.000 Besucher. Mühlenbrock fand bei der Senatsverwaltung für Kultur und Europa finanzielle Unterstützung, die einen freien Eintritt ermöglichte.

Dass so viele gekommen waren, konnte man im Kraftwerk nur erahnen. Verwinkelte Treppen und viele offene Räume trugen dazu bei, dass sich die Massen verteilten. Beim Eintreten in die dunkle Halle fiel deshalb zuerst die beeindruckende Architektur mit den versetzten Etagen auf. Nach dem Umherstreifen muss man Mühlenbrock zustimmen: Man bekam einen ganz anderen Eindruck von den Räumen als beispielsweise während der Messen auf der Berliner Modewoche. Die kommerziellen Stände, an denen dort die Mengen vorbeigeschleust werden, nehmen den Mauern und Säulen aus Beton ihre eigentliche Identität. Ganz ohne Bühnen, Technik, Banner und Skulpturen wirkt der Bau in sich als Einheit, die ein Gewirr aus Stimmen, Babyschreien und Hundegebell wohlig aufnimmt und verschluckt. Erklangen die sanften Chorstimmen, konnte man diese aber sofort herausfiltern.

Die Konzerte der einzelnen Chöre begannen immer wieder überraschend an unterschiedlichen Orten. Die Menschen strömten die Treppen hinauf und hinunter, um einen Blick auf die Singenden zu bekommen. Bei der Darbietung des Kammerchors Jeunesse Berlin am späten Nachmittag folgten die Zuhörenden dem Gesang in die oberste Etage. Die gemeinsame Bewegung für die Erkundung der Räume war ein sich wiederholendes Motiv am Tag. Auch die Chöre positionierten sich zwischen den Liedern neu. Ganz nach einem Zitat des britischen Theaterregisseurs Peter Brook, das Mühlenbrock im Gespräch zitierte, war der leere Raum im Kraftwerk die Bühne und demnach überall vorzufinden.

Mühlenbrock trug Daschs Notenpult, der als Dirigent rück- wärts laufen musste

Dasch, der bei Jeunesse dirigierte, platzierte seine Chormitglieder zuerst in einer Linie. Nach dem zweiten Lied von Claudio Monteverdi bildete der Chor einen Kreis mit dem Publikum, um sich anschließend mit diesem auf eine andere Etage zu begeben. Ein Teil der Leute verweilte oben, denn das Hören war von jedem Winkel im Kraftwerk möglich. Doch lohnte es sich gerade beim siebten Lied von Jeunesse in Chornähe zu sein.

Dort kam es zu einer Einheit aus Publikum und Singenden. Die Chormitglieder verteilten sich während Stephen Leeks spektakulärem Stück „Kondalilla“ zwischen den Besuchern und stießen bei ruhigen Schritten spitze Schreie und sanfte Töne aus. Der mächtige Gesangsapparat eines Chors zerstreute sich so und zersplitterte. Blieb man an einer Stelle stehen, hörte man abstrakte Soli von jeder Seite. Es entstand ein anspruchsvoller Gesangswirbel, den das eigene Gehör erst ausloten musste. Dasselbe galt auch für die Singenden, die trotz andauernder Entfernungsänderung zu ihrem Dirigenten nie den Kontakt verloren.

Das konnte nur die finale Aufführung aller Chöre zusammen überbieten, in der sich die Singenden entlang der großen Turbinenhalle bewegten. Mühlenbrock trug Daschs Notenpult, der als Dirigent rückwärts laufen musste. Ganz der Filmemacher, sprach er kurz davor mit einem Kameramann. Was genau passieren würde, konnte er aber nicht wirklich wissen. Denn Peter Brooks Bild vom leeren Raum, das ihn zu seiner Veranstaltung motivierte, verändert sich mit den Besuchern als Darsteller permanent. Am Ende beobachtete Mühlenbrock die aufbrechenden Besucher draußen vor dem Kraftwerk. Sein zuvor leeres Bild vom leeren Kraftwerk hatte sich über den Tag neu gefüllt – es wird ihn auch weiterhin inspirieren.