berliner szenen
: Eine Instanz für den Ernst des Lebens

Es ist halb sechs. Im Morgengrauen sieht mein Zimmer etwas verwahrlost aus. Ich bin aufgeregt wegen des Zahnarzttermins. Eigentlich wollte ich schon vor drei Jahren zur Zahnärztin. Ich gehe in die Küche, trinke etwas Wasser, öffne die Wohnungstür, lege die Fußmatte davor, damit sie nicht wieder zuknallt, gehe die halbe Treppe zum großen Flurfenster und öffne es. Der Steinboden ist angenehm kühl.

Es ist schön, im Luftzug am Tisch zu sitzen. Die Tischplatte hatte ich vor ein paar Wochen oder Monaten draußen gefunden. Ich lege mich wieder ins Bett und stehe zwei Stunden später wieder auf, mir ist ein bisschen feierlich zumute. Ich erinnere mich an die anderen bedeutsamen Zahnärztinnenbesuche der letzten zwanzig Jahre. Jeder meiner seltenen Zahnärztinnenbesuche war ein entschlossener Versuch, mein Leben in den Griff zu bekommen, dokumentierte aber auch gleichzeitig das Scheitern der letzten Versuche.

Gestern Abend hatte ich die Zahnpastatube aufgeschnitten, weil Rollen und Drücken auch nichts mehr half. Ich renne zu Rossman, kaufe mir neue Zahnpasta, putz mir die Zähne, nachdem ich geraucht habe. Mein Zahnärztin ist da sehr dagegen.

Bis zum Aufbruch vergeht die Zeit erwartungsgemäß wie im Flug. Zuletzt war ich im Mai U-Bahn gefahren. Es ist schön, wieder unterwegs zu sein, der Zug ist halbleer. Das U-Bahn-Fernsehen gibt bekannt, dass Benedikt Höwedes nach Russland wechselt – irgendwie macht mich die Nachricht traurig. Vor dem Haus der vermeintlichen Zahnärztinnenpraxis steht ein Rettungswagen. Hoffentlich hat meine Zahnärztin keinen Mist gebaut.

Ein Sanitäter und ein Bauarbeiter stehen redend am Rande; einer raucht. Ich hab noch eine Viertelstunde, bitte um Feuer und rauche.

Detlef Kuhlbrodt